Nicolaus A. Huber (*1939) Split Brain
mit vorausgehendem Solo-Shrug („emotionale Reste“) [KamOrch] 2015 Dauer: 18'
2.(Picc.A-Fl).2.2.2. – 2.2.2.0. – Schl(2) – Akk – Klav/Toy-Piano – Str: 8.6.5.4.3.
UA: Wittener Tage für neue Kammermusik, 7. Mai 2017
Der Dirigent beginnt mit einem Solo bekannter Fingerzeige, dreht sich zum Orchester und zeigt dann mit den dirigierenden Händen, was da alles wirklich so drinnen steckt an Ausdruck und Struktur – und erst bei den spielenden Musikern!!
Die rechte Hand ist mit unserer linken Gehirnhälfte verbunden, die linke Hand mit der rechten. Beide Gehirnhälften arbeiten nicht redundant, sie haben jeweils eigene spezielle Aufgaben. Die Welt ist geteilt und repräsentiert sich asymmetrisch in unseren Gehirnhemisphären, wobei diese Gehirnhälften z. B. unsere Bewegungen auch steuern, aktiv zuständig sind. Die linke Hälfte ist z. B. für Sprache zuständig, das fehlt der rechten Hälfte. Man kam auf die Geheimnisse, als man aus Therapiegründen bei einem Epileptiker die Verbindung zwischen beiden Gehirnhälften kappte. Das ist eine Faserverbindung mit über zweihundert Millionen Axonen, die größte überhaupt. Bei der Untersuchung des Patienten erkannte man nicht nur die verschiedenen Aufgaben und Zuständigkeiten, nein: die beiden Gehirnhälften zeigten beim Split Brain, dass sie auch verschiedene Pläne für die Person hatten. Z. B. hatten beide Hemisphären verschiedene Berufswünsche, eine hatte mit der Freundin schon Schluss gemacht, die andere nicht. Es kann vorkommen, dass eine Hand die Freundin streichelt, die andere sie würgt, oder dass eine Hand beim Einkauf zum roten Kleid, die andere zum grünen Kleid oder zu einem ganz anderen Modell greift. Bei intaktem Corpus Callosum moderiert die eher analytische, auf Details erpichte linke Gehirnhälfte die Wünsche der rechten Hälfte – und unser Bewusstsein ist froh darüber! Manchmal entschuldigt das linke Gehirn mit seiner Wortmächtigkeit und Logik Impulse des rechten, damit Ungereimtheiten plausibel werden.
Wie schon oft, musste ich auch bei diesen Berichten immer wieder an Schönberg denken, den selbstradikalen Nicht-Beschöniger. In seinem Buch „Stil und Gedanke“ berichtet er gleich zwei Mal darüber, dass er die wahre Verwandtschaft zwischen dem 1. und 2. Hauptthema seiner Kammersymphonie erst zwanzig Jahre später erkannte, zwischen den ganztönigen Umfängen des einen und den f-molligen Abständen des anderen. Er fand die Natur der Beziehungen so komplex, dass nur das Unterbewusstsein so etwas zustande bringen könnte. Und er schreibt weiter, dass ein solches Verfahren im vorigen Jahrhundert (dem 19. !!) als „Hirnarbeit“ betrachtet worden war. Und dann schreibt dieser prophetische Mann: „Jede musikalische Konfiguration, jede Bewegung von Tönen muss vor allem verstanden werden als wechselseitige Beziehung (die heutige Wechselwirkung, N.A.H.) von Klängen, von oszillierenden Schwingungen, die an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten auftreten.“ Wenn man dieses Hören und Auffassen physikalisch noch etwas weiter treibt und modernisiert, dann befindet man sich inmitten von vielfältig schwirrenden Nichtidentitäten. Hans-Peter Dürr sagt: „Es gibt keine Materie“.
Von der ersten Zeile dieses Textes an spreche ich vom Hören und dass man neue Vielfalt, Ungewissheit und Neigungen ins Hören treiben muss. Ich habe mir beim Komponieren mein Bewusstsein immer als entscheidungsentschlackt vorgestellt, ein Hin- und Hersurren von Informationen, Bildern und Wünschen zwischen beiden Gehirnhälften im Kopf gespürt. Und ich denke, dass auch ein sausend dröhnendes, nichtgeortetes Hören angemessen wäre. Wie heißt es bei Schubert? „Rauschender Aufenthalt“? – ein guter Mesobereich! Split im No Split!
Nicolaus A. Huber (2015)
Bibliografie:
„Es gibt Dinge, die sind richtig, aber sie ruhen“. Nicolaus A. Huber im Gespräch mit Michael Struck-Schloen, in: MusikTexte, Heft 154 (August 2017), S. 31-37.
Nonnenmann, Rainer: Das Klingen des Stummen – Überformungen von Sehen und Hören am Beispiel auskomponierter Soli für Dirigenten, in: Die Musikforschung 71 (2018), Heft 1, S. 43-66.