Nicolaus A. Huber (*1939) Entschwindungen
[Chor: SATB (jeweils 6), 2Schl, CD] 2016 Dauer: 18' Text: Hans Magnus Enzensberger, Johann W. von Goethe, Friedrich Hölderlin, Heiner Müller und Pablo Neruda
UA: Stuttgart, 4. Februar 2017
Nach kleineren Arbeiten aus meiner Studienzeit ist dies meine vierte Komposition für Chor. Und wieder sind der SWR und Stuttgart daran beteiligt. Allerdings war es diesmal besonders schwierig für mich, in einer Zeit, da Tausende auf der Flucht sind, hilfsbereite Menschen sich Tod, Erschöpfung, Krankheit, seelischen Zerrüttungen entgegensetzen und gleichzeitig roher Hass, Gewalttätigkeit, politische Kurzschlüssigkeiten aller Art ihr explosives Potential entfalten, für die 24 Münder des Chores Texte zu finden.
Schließlich habe ich nur politische Dichter gewählt und verschiedenste Exzerpte gegeneinander gestellt. Aus Pablo Nerudas elementarer Ode „An die Luft“, Hans Magnus Enzensberger, der sich hier nur an einen Trambahnfahrer wendet, Heiner Müllers „tritt in die Küche, Esser!“ und vom eigenartig zerrütteten Hölderlin Winteransichten aus dem Rund des Tübinger Turms.
Mundproduktionen, gesungen, geatmet, nachdenklich gesprochen, gerufen, gehaucht, sind das Lokalste, was ich kenne. Wie – im Sinne einer Quantenharmonik – Nichtlokalität von Tönen als Wahrscheinlichkeitswelle ohne zwischenliegende harmonische Schritte möglich machen? Schließlich ist daraus eine Art musikalisch-textliches Sieb geworden, in dessen Gitter man sich einsaugen lassen kann, wenn man möchte.
„Wenn sich das Laub auf Ebnen weit verloren“, sagt Hölderlin. Harmlos? Ist Ruh? befragen Brecht und Eisler Goethes Meistergedicht. Wir brauchen Weiter für Bewegung, denn es gibt neue Nähen von z. B. Hunger, Kälte, Durst, Schmerz, Wut, Warten, Geduld – – – neue große Gefühle – und soziale! – zumindest für die Nichtbetroffenen.
Da mutet der Aaahhhh-Schrei von Serena Willams nach einem wichtigen verlorenen Halbfinale harmlos an, eine soziale Bagatelle im allgemeinen Wohlstand. Meinte Neruda mit „Luft, lass dich nicht verkaufen“ auch die Luft aus unseren Lungen?
Bei meiner Recherche im Internet zu „Entschwindungen“ stieß ich auf Jean-Paul Sartre. Er schrieb 1948, Giacomettis Figuren „changieren zwischen Erscheinungen und Entschwindungen“.
Lange Zeit hatte ich die Vorstellung, dass während des Konzertes eine politische Aktivistin mit Mikrophon aufsteht und mir entgegenruft: „Was ist das für ein Scheiß!“ Ich wünschte, das Stück könnte sie dialogbereit machen.
(Nicolaus A. Huber 2016 zum Umfeld der Komposition)