Manuela Kerer (*1980) verschlungen
[KamOrch] 2016/2017 Dauer: 8'
1.1.1.1 – 1.1.1.1 – Schl(2) – Str
Uraufführung: Innsbruck, 2. April 2017
Hommage an all jene, die flüchten oder sich verstecken müssen/mussten und dabei Unglaubliches leiste(te)n
In der Türkei gibt es über 200 unterirdische Städte, die teilweise bis zu 4000 Jahre alt sein sollen und mehrere Stockwerke in die Tiefe der Erde reichen. Unvorstellbar, wie die Menschen damaliger Zeiten ohne unsere heutigen technischen Möglichkeiten derartiges erbauen konnten. Allein das Belüftungssystem ist eine großartige, bis ins Detail durchdachte Ingenieurleistung. Die Menschen lebten zu mehreren Tausend in diesen Systemen aus Gängen und Räumen, und die Forscher vermuten den Hauptgrund dafür in der Suche nach Schutz. Der Mensch hat seit jeher versucht, sich unter der Erde zu verstecken, sei es in tiefen Höhlen, sei es auch später in Katakomben oder Bunkern. Diese unterirdischen Bauanlagen und Gangsysteme habe ich in Klänge übersetzt. Der Mangel an Licht und frischer Luft, die Angst und beklemmende Gefühle haben natürlich ihre Spuren hinterlassen. Deshalb hat mich für die Komposition auch das „Unterirdische“ am Menschen interessiert: Der Irrgarten unserer Psyche, den Freud und die von ihm begründete Psychoanalyse als „Unbewusstes“ aus dem Schatten heraus in den Vordergrund stellten. Das Unbewusste ist natürlich um ein Vielfaches verschlungener und verwinkelter als die unterirdischen Gangsysteme, die von Menschen erbaut werden. Ich frage mich in diesem Stück musikalisch, ob dieses Unbewusste der Schlüssel und die Verbindung von der äußeren zur inneren Welt ist, zu unserem eigenen, inneren Labyrinth. Dabei gehen die Neurowissenschaften heute vom Gehirn als Organ der Psyche aus, das subjektives Erleben hervorbringt. So hat man herausgefunden, dass das Bewusstsein dem neuronalen Prozess der Entscheidungsfindung hinterherhinkt. Ist das Unbewusste also ein reines Produkt biochemischer Gehirnprozesse? Diese Streitdiskussion führen Wissenschaftler heute. Ich kann und will sie natürlich nicht lösen, aber sie hat mich mit musikalischen Ideen geflutet.
(Manuela Kerer)