Helmut Lachenmann (*1935) Marche fatale
[Klav] 2016/17/20 Dauer: 8'
Uraufführung der Klavierfassung: Mito/Japan, 17. Juni 2017
Uraufführung der Orchesterfassung: Stuttgart, 1. Januar 2018
Uraufführung der Ensemblefassung: Frankfurt am Main, 9. Dezember 2020
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Marche fatale ist eine unvorsichtig gewagte Eskapade, sie dürfte den Kenner meiner Kompositionen mehr irritieren als meine früheren Werke, von denen nicht wenige sich erst nach Skandalen bei ihrer Uraufführung durchgesetzt haben. Meine Marche fatale hat allerdings stilistisch mit meinem bisherigen kompositorischen Weg wenig zu tun, sie präsentiert sich hemmungslos, wenn nicht als Rückfall, so doch als Rückgriff auf jene Floskeln, an welche die moderne Zivilisation in ihrer täglichen „Gebrauchsmusik“ nach wie vor sich klammert, während doch die Musik im 20. und 21. Jahrhundert längst zu neuen, ungewohnten Klanglandschaften und Ausdrucksmöglichkeiten vorgedrungen ist.
Das Schlüsselwort heißt „Banalität“. Als Kunstschaffende verachten wir sie, versuchen wir, sie zu meiden – obwohl wir auch innerhalb neuer ästhetischer Errungenschaften vor dem Billig-Banalen nicht sicher sind.
Viele Komponisten haben sich gelegentlich des Banalen angenommen. Mozart schrieb Ein musikalischer Spaß, ein bewußt „dilettantisch mißglücktes“ Sextett. Beethovens Bagatellen op.119 wurden vom Verleger abgelehnt, mit der Begründung: „Daß dieses Werkchen von dem berühmten Beethoven sey, werden wenige glauben.“ Mauricio Kagel schrieb, gleichsam augenzwinkernd, Märsche, um den Sieg zu verfehlen, Ligeti schrieb Hungarian Rock, Strawinsky zitierte und verzerrte in seiner Circus Polka den berühmten, seinerzeit vierhändig komponierten, allzu beliebten Schubertschen Militärmarsch.
Ich selber weiß allerdings nicht, ob ich meine Marche fatale neben diese Beispiele einreihen soll: ich akzeptiere den Humor im Alltag, zumal dieser für manchen unter uns wohl anders nicht zu ertragen ist. In der Musik mißtraue ich ihm, halte mich dafür umso enger an die tiefere Idee des Heiteren, die mit Humor wenig zu tun hat.
Indes: Ist ein Marsch mit seinem kollektiv in kriegerische oder festliche Stimmung zwingenden Anspruch nicht a priori lächerlich? Ist er überhaupt „Musik“? Kann man marschieren und zugleich hören?
Ich habe mir irgendwann vorgenommen, das „Lächerliche“ als entlarvendes Wahrzeichen unserer am Abgrund stehenden Zivilisation ernst – vielleicht bitter ernst – zu nehmen. Der – wie es scheint unaufhaltsame – Weg ins schwarze Loch alles lähmenden Ungeistes: „das kann ja heiter werden“. Meine alte Forderung an mich und meine musikschaffende Umgebung, eine „Nicht-Musik“ zu schreiben, von wo aus der vertraute Musikbegriff sich neu und immer wieder anders bestimmt, so daß der Konzertsaal statt zur Zuflucht in trügerische Geborgenheiten zum Ort von geist-öffnenden Abenteuern wird, ist hier – vielleicht? – auf verräterische Weise „entgleist“. Wie konnte das passieren?
Der Rest ist – Denken.
(Helmut Lachenmann, 2017)
CD (Fassung für Klavier):
Nicolas Hodges
CD Wergo WER 7393 2
Bibliografie:
Ich bin nicht „pietistisch verformt“. Ein Gespräch [von Jan Brachmann] mit dem Komponisten Helmut Lachenmann, in: FAZ vom 7. Juni 2018, S. 15.