Manuela Kerer (*1980) zersplittern
[Ens] 2014/2015 Dauer: 8'
Klar(B-Klar).Fg - Hn - 2Vl.Va.Vc.Kb
UA: Bad Gastein, 12. September 2015
Auftragswerk der Camerata Salzburg
Normalerweise sprechen wir von „dem“ Gehirn, obwohl dieser einzigartige Neurocomputer tatsächlich aus vielen Teilen besteht. So wurde das Gehirn im Laufe der Entwicklung immer größer und entwickelte neue Bereiche wie eine wachsende Stadt, in der nach und nach immer neue Stadtteile entstehen. Ein wichtiger Teil unseres Gehirns ist das Großhirn, das sich wiederum in zwei Hälften teilt. Diese beiden Hemisphären sind funktionell nicht identisch, sondern besitzen teilweise unterschiedliche Funktionen. Um eine perfekte Zusammenarbeit sicherstellen zu können, sind die Hemisphären durch einen Balken, das sogenannte Corpus callosum verbunden. Etwa 200 Millionen Nervenfasern gewährleisten einen perfekt funktionierenden Informationsaustausch. Bei einigen Formen der Epilepsie sah man in der Vergangenheit dennoch keinen anderen Ausweg zur Linderung, als den Balken chirurgisch zu trennen, was zu schweren Kognitionsstörungen führte. Was aber passiert genau, wenn der Balken und folglich der Kommunikationsaustausch zusammenstürzen? Ich versuche, diese Frage des „Split-Brains“ (gespaltenes Gehirn) musikalisch zu lösen und nehme mir dazu alle klanglichen Freiheiten. Nervenimpulse werden unterbrochen und führen zu neuen Konstellationen. Augenscheinlich monotone Motive brodeln im Untergrund des ersten Satzes, um schließlich auszubrechen. Den aufgeworfenen Gedanken folgend, entstehen im zweiten Satz neue klangfarbliche Raster, die sich gegenseitig fortschreiben. Strukturlosigkeit birgt neue Ordnungen in sich, Gedanken zersplittern, um sich neu auszurichten. Zusätzlich zum Split-Brain-Phänomen stieß ich bei diesem Werk immer wieder auch auf eine andere Frage: Was ist „normal“ und: liegt dieses Attribut nicht gänzlich im „Gehirn des Betrachters“?
(Manuela Kerer, 2015)