José M. Sánchez-Verdú (*1968) Jardí blau
[Bar,Klar,GCh,Orch] 2004-2010 Dauer: 50'
Soli: Bar.Klar – Chor: SATB – 2(Picc).B-Fl.2.Eh.2.B-Klar(Kb-Klar).2.Kfg – 4.3.3.B-Tuba – Pk.Schl(2) – Hfe – Klav.Akk – Str
Uraufführung: Valencia/Spanien, 29. Mai 2010
Diese umfangreiche Komposition von fast einer Stunde Dauer ist ein poetisch-musikalischer Zyklus, der auf der Philosophie, dem Denken und den Texten von Ramon Llull basiert. Nicht nur kurze poetische Fragmente dieser einzigartigen Persönlichkeit durchdringen die Partitur und deren „Duft“, sondern sie koexistieren auch mit Gedanken und Ideen aus der islamischen und jüdischen Welt – wie zu Llulls Zeiten. So stehen die Gedichte von Yehudah Ha-Levi und die von Muhammad Ibn Ubada Al-Qazzaz im Dialog mit den schönen und kurzen poetischen Texten des Llibre damic e amat des mallorquinischen Mystikers.
Die Schemata der Philosophie Llulls sowie ihr Zusammenspiel mit anderen Denk- und Glaubensformen waren Teil der Entwicklung der Partitur, nicht nur vom textlichen Standpunkt aus, sondern auch von der Entwicklung des musikalischen Materials selbst.
Llulls Llibre del gentil e dels tres savis schwebt ebenfalls über diesem Werk, wenn auch ohne direkte Textbezüge; es tut dies auf der Grundlage symbolischer Visionen und sehr lullianischer Ansätze: die Figuren des Gartens, der Bäume und der Blumen als Systeme der Schematisierung seines Denksystems. Aus diesem Grund gliedert sich das Werk in zwei große Instrumentalsätze (Mural und Horitzó) und sechs musikalische Gärten.
Mural bildet einen poetischen Eingang zum Garten der Gedanken Llulls: seine Windungen, seine Wege, seine Labyrinthe bieten einen üppigen und reichen Klangteppich, der als Einführung in das gesamte Werk dient. Horitzó seinerseits bildet die mystischste Seite des Werkes; es ist ein zentrales Zwischenspiel, in dem die Klarinette in den Garten der Aromen, Blumen und Bäume von Llulls Werk eintaucht: Der Klarinettist spielt die Rolle der Geliebten, die sich in den Labyrinthen des Gartens befindet, in dem das Wort nicht mehr in der Lage ist, die Zustände der Verzückung und Ekstase zu vermitteln. Der Horizont ist die einzige Linie, die die Existenz bestimmt und sichert, er ist der Rand des Abgrunds, der das Bekannte mit dem Unbekannten konfrontiert. Der Horizont ist nicht nur die gemeinsame Heimat der Menschheit, wie Chillida sagte, sondern er beginnt auch dort, wo unsere Grenzen definiert werden (Edmon Jabès).
Die Gärten (Jardí 1 bis 6) sind Aufenthaltsorte des Raums und der Zeit, in denen sich ganz bestimmte Visionen und Assoziationen in Bezug auf das Werk von Llull (einem streitbaren Vertreter des Christentums) und auf das Denken jüdischer und muslimischer Autoren entfalten. Der Jardí blau ist das metaphorische Bild dieses Mittelmeers, das von den Lagen der Geschichte und den Sedimenten der großen Kulturen bedeckt ist, die es durchquert, ausgebeutet und erobert haben und dabei Spuren verschiedener Sprachen, Religionen und Kulturen hinterlassen haben. Llull verkörpert durch seine ständige Reisepräsenz im Raum seiner Zeit, zwischen Mallorca, der levantinischen Küste, Südfrankreich und dem Norden des Maghreb, nicht nur eine Leitfigur einer Sprache (wie Dante in Italien), sondern auch den Vater eines höchst originellen Denksystems und einer persönlichen Philosophie. Jardí blau stellt den Versuch dar, dieses Mittelmeer in einem Garten als Bild der vom Menschen domestizierten und eroberten Natur zu subsumieren, einem nach den Maßstäben des Menschen umgestalteten Raum, in dem sich die Annehmlichkeit seiner Wege und Ecken mit seiner Metapher als Ort des Wissens überlagert.
Qualia ist der Plural von Quale. In der Philosophie des Geistes werfen die Qualia eine seit langem diskutierte Frage auf (ebenso wie die Existenz des Geistes selbst) und beziehen sich auf die Wahrnehmung von Farben. Als der Auftrag für dieses Werk für den Palau de les Arts besprochen wurde, war mir von Anfang an klar, dass ich den musikalischen Teil mit dem räumlichen Teil verbinden wollte, noch dazu in einem emblematischen architektonischen Raum in Valencia mit dem Namen Calatrava als Banner. Auf diesem Weg versucht Qualia-Jardí blau, die Farbe in jedem seiner Abschnitte oder musikalischen und poetischen Gärten interagieren und so die Farbe als Teil der Wahrnehmung erscheinen zu lassen. So wird eine Lichtdramaturgie parallel zur musikalischen präsentiert; es geht also darum, den verschiedenen Teilen des Werks eine Tiefe der Licht- und Farbwahrnehmung zu geben, die gleichzeitig bereits eine Tiefe oder semantische Ebene (die verwendeten Texte und ihre Bedeutung) und eine rein musikalische Tiefe oder abstrakte Ebene aufweist, die nicht semantisch ist, aber die ersten beiden Ebenen übersetzt und von ihnen inspiriert wird. Das Licht, die Texte und die Musik entfalten diese verschiedenen Ebenen wie in einem Palimpsest um Ramon Llulls Visionen und Poetik.
Der Bariton-Solist und der Klarinetten-Solist verkörpern die lullianischen Charaktere der beiden Liebenden, die Dialoge zwischen ihnen aus dem Llibre damic e amat. Der Chor nimmt an diesen Dialogen teil, indem er dem poetischen Wort seine Bedeutung verleiht; die Klarinette hingegen ist das auf das Wesentliche reduzierte Wort, das keinen Inhalt mehr vermitteln kann – sie ist reine Musik. Chor, Klarinette und Bariton schaffen mit ihren Fragen und Antworten einen poetischen und musikalischen Garten, in dem die Texte, die in der Partitur festgelegte Räumlichkeit sowie die Entwicklungen des Klangmaterials und der Farbe selbst eine Reise, eine Reiseroute, eine Verschiebung erzeugen. Vielleicht wie die ständigen Reisen, die Ramon Llulll, der zugleich voller Abenteuerlust, Utopie und Leidenschaft war, unternahm, um seinen religiösen und philosophischen Interessen nachzugehen.
José M. Sánchez-Verdú (2010)
I. | Mural für Orchester | |
II. | Jardí 1 „On vas?“ | (Ramon Llull) |
III. | Jardí 2 „Vaise mieo corachón“ | (Yehudá Ha-Leví) |
IV. | Jardí 3 „Cantava l’aucell“ | (Ramon Llull) |
V. | Horitzó = Elogio del horizonte für Klarinette und Orchester | |
VI. | Jardí 4 „Digues, foll“ | (Ramon Llull) |
VII. | Jardí 5 „Ven cidi Ibrahim“ | (Muhammad Ibn Ubada Al-Qazzaz) |
VIII. | Jardí 6 „Cantavan los aucells“ | (Ramon Llull) |