Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) Elias op. 70 MWV A 25
Oratorium – Urtext nach der Leipziger Mendelssohn-Gesamtausgabe herausgegeben von Christian Martin Schmidt [Soli,GCh,Orch] Dauer: 160'
Klavierauszug vom Komponisten als zentrale Quelle
256 Seiten | 23 x 30,5 cm | 942 g | ISMN: 979-0-004-18320-5 | Broschur, Fadenheftung
Felix Mendelssohn Bartholdy überarbeitete seinen Elias nach der erfolgreichen Uraufführung im Sommer 1846 in Birmingham grundlegend – die einzelnen Schichten dieser Revision lassen sich jedoch weniger in der autographen Partitur als vielmehr in dem parallel erstellten Klavierauszug erkennen, den der Komponist für eine gleichzeitige Drucklegung sowohl in England als auch in Deutschland weiterentwickelte. Der zweisprachige Klavierauszug enthält zum ersten Mal eine korrekte Unterlegung des englischen Gesangstextes, den William Bartholomew in intensiver Zusammenarbeit mit Mendelssohn ausgearbeitet hat.
Elias op. 70 von Felix Mendelssohn Bartholdy, das bei der Publikation Ein Oratorium nach Worten des alten Testaments genannt wurde, gilt neben seiner etwa zehn Jahre zuvor entstandenen Schwesterkomposition Paulus op. 36, die sich auf einen neutestamentarischen Stoff konzentriert, als das Hauptwerk seines Komponisten. Mehr noch als op. 36 aber dokumentiert das alttestamentarische Oratorium die überaus enge Verbindung zwischen Deutschland als seiner ersten und England als seiner zweiten künstlerischen Heimat, die er als verpflichtend empfand und die er seit Ende der achtzehnhundertzwanziger Jahre mit großem Engagement pflegte.
Schon kurz nach der Uraufführung des Paulus am 22. Mai 1836 in Düsseldorf dachte Mendelssohn über ein neues Oratoriumsprojekt nach und tauschte sich darüber zwischen August 1836 und April 1837 mehrfach brieflich mit seinem Freund, dem Legationsrat Carl Klingemann in London, aus. Der Briefwechsel darüber mündete während eines neuerlichen Englandaufenthaltes im August/September 1837, den der Komponist vor allem wegen seiner Konzertverpflichtungen beim Birmingham Musical Festival angetreten hatte, in zwei regelrechte Arbeitssitzungen, die Mendelssohn mit Klingemann in London abhielt und bei denen die biblische Geschichte des Propheten Elias schon ganz im Vordergrund stand. Nach seiner Rückkehr nach Leipzig jedoch mahnte der Komponist bei seinem Londoner Freund zwar mehrfach die Fortsetzung der Ausarbeitung des Librettos an, erhielt aber nur hinhaltende Antworten. So wandte er sich an den Dessauer Pfarrer und Konsistorialrat Julius Schubring, der ihm schon beim Paulus als Librettist zur Seite gestanden hatte. Aber obwohl sich die Arbeit am Text mit Schubring im Herbst 1838 vielversprechend entwickelte, blieb das Projekt zunächst für mehrere Jahre liegen.
Wiederum aus England kam die entscheidende Anregung, den alten Oratoriumsplan in die Tat umzusetzen. Am 22. Juni 1845 kündigte Joseph Moore, der Leiter des Birmingham Musical Festivals, also genau derjenigen Institution, bei der Mendelssohn während jenes Festivals 1837 neben anderen Konzerten den Paulus dirigiert hatte, dem Komponisten den Auftrag eines weiteren Oratoriums für das Festival 1846 an. Mendelssohn nahm letztlich dieses Angebot mit dem von ihm gewählten Sujet an und machte sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1845 mit großer Konzentration an die Arbeit. Denn es war vieles, ja nahezu alles noch zu tun. Der einzige Satz, der in einer Frühfassung bereits vorlag, war das Doppel-Quartett Nr. 7, das schon im August 1844 dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. mit einer Widmung zugesandt worden war. Der Rest der kompositorischen Arbeit an der Uraufführungsfassung – d.h. die eigentliche musikalische Schöpfung – leistete Mendelssohn in den verbleibenden zwölf Monaten, einer Zeitspanne, die allerdings auch den Verantwortlichen der Uraufführung am 26. August 1846, Organisatoren wie Interpreten, ein Höchstmaß an Engagement und Leistungsbereitschaft abverlangte.
Bedeutung und Entstehung des Klavier-Auszugs
Felix Mendelssohn Bartholdy komponierte zu einer Zeit, als einerseits das musikalische Verlagswesen nach zögerlichen Anfängen im 18. Jahrhundert in einer ersten Blüte stand und andererseits die Komponisten begannen, in Zusammenarbeit mit ihren Verlegern aktiv an der Publikation und Verbreitung ihrer Werke mitzuwirken. So gab man nicht nur die für eine Aufführung unabdingbaren Materialien wie Stimmen (für Orchester bzw. Chor) und Partitur in Druck, sondern es wurden zunehmend auch Bearbeitungen für Klavier (sei es zu zwei oder vier Händen, sei es für zwei Klaviere) herausgegeben, denen immer mehr die Bedeutung zuwuchs, die Werke – wenngleich in reduzierter Form – einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Mit dieser Publikationsform trug man der spezifischen Ausrichtung des Musiklebens im 19. Jahrhundert Rechnung, das ganz zu Recht als „klavierspielendes Jahrhundert“ charakterisiert wird.
Solche Klavierbearbeitungen entstanden zum Teil auf Initiative der Verlage und wurden von fremden Autoren ausgeführt, viele Komponisten aber übernahmen mehr oder minder bereitwillig auch selbst die Aufgabe, von reinen Orchester- oder orchesterbegleiteten Vokalwerken Fassungen für Klavier auszuarbeiten und zu verantworten. Mendelssohn ist einer der ersten großen Komponisten, der sich mit beträchtlichem Engagement für diese Form der Verbreitung einsetzte und großen Wert darauf legte, dass die jeweilige Bearbeitung dem spezifischen Zweck, den sie erfüllen sollte, und dem Benutzerkreis, für den sie gedacht war, gerecht wurde. Von der berühmten Konzert-Ouverture zu Shakespeares Sommernachtstraum op. 21 beispielsweise hatten bereits kurz nach deren Entstehung die Schwestern des Komponisten Fanny und Rebecka eine Klavierbearbeitung hergestellt; diese entsprach aber nicht den Anforderungen, die der Komponist an eine druckreife Version stellte. Darauf geht er in einem Brief vom 10. März 1832 aus Paris an die Familie in Berlin ein: „die Ouverture zum Sommern.sTr. […] muss ich hier noch 4händig arrangiren, da Ihr, o Schwestern, sie allzuschwer gemacht für ein kunst-liebendes Publikum.“
War der für „ein kunstliebendes Publikum“ angemessene Schwierigkeitsgrad das eine Kriterium, das Mendelssohn für die Beurteilung einer Klavierbearbeitung heranzog, so bestand sein anderer Bewertungsmaßstab in der Frage, inwieweit die kompositorische Substanz des Werkes in der Bearbeitung bewahrt blieb. Auch dazu hat er sich brieflich in aller Deutlichkeit geäußert, und zwar in einem Schreiben vom 16. Januar 1835 an Breitkopf & Härtel, seinen Hauptverleger in Leipzig. Dieser hatte Friedrich Mockwitz ohne Wissen des Komponisten damit beauftragt, ein zweihändiges Arrangement der Hebriden-Ouvertüre op. 26 zu verfertigen und Mendelssohn ein Belegexemplar der im Herbst 1834 erschienenen Ausgabe zukommen lassen. Dieser reagierte einigermaßen ungehalten: „Es war mir sehr leid, hier ein Exemplar meiner Hebriden=Ouvertüre, für zwei Hände eingerichtet, zu finden, worin das Stück gar zu sehr gelitten hat; ich glaube es liegt hauptsächlich daran daß es wohl überhaupt nicht für einen Spieler zu arrangiren sein mag; aber es wäre mir doch sehr lieb gewesen, wenn Sie mich vor der Publication davon hätten benachrichtigen können, und mir das Arrangement mittheilen. Ich bin überzeugt daß in dieser Gestalt das Stück unmöglich Freunde finden kann, und so ist es mir mehr um Ihrentwillen unangenehm; mir wenigstens könnte es nicht so gefallen.“
Von solchen Arrangements für Klavier, die Mendelssohn insbesondere von Orchesterwerken wie seinen Konzert-Ouvertüren oder Symphonien herstellte, unterscheidet sich ein Klavier-Auszug wie der vorliegende des Oratoriums Elias beträchtlich. Der Klavier-Auszug hat eine ganz andere Funktion als die Arrangements, nämlich dient in allererster Linie der praktischen Einstudierung sowohl der Vokalsolisten als auch des Chores. Mit dem Wechsel der Funktion ändern sich für Mendelssohn auch unmittelbar die sachlichen Erfordernisse, die der Komponist bei der Erstellung zu erfüllen trachtete. Ihm ging es hier nicht darum, die Substanz der Komposition in verhältnismäßig leicht spielbarer Form einem breiteren Publikum nahezubringen, sondern er verfolgte vielmehr das Ziel, den Orchesterpart des Werkes in einer Weise abzubilden, die der Entfaltung der Vokalstimmen ihre satztechnische Basis gab und den Sängern in Andeutung eine Klangvorstellung dessen vermittelte, was sie bei der Aufführung mit Orchester zu erwarten hatten. So konnte er beim Klavier-Auszug auch ohne inhaltlichen Verlust auf eine Bearbeitung für Klavier zu vier Händen, die er – wie oben deutlich wurde – bei den Arrangements bevorzugte, verzichten und sich auch aus praktischen Gründen mit einem Spieler für die instrumentale Begleitung des Chores begnügen.
Bei der Vorbereitung der Drucklegung allerdings verhielt sich Mendelssohn den beiden Genres von Klavierbearbeitungen gegenüber, seien es nun Arrangements oder Klavier-Auszüge, vollkommen gleich: Er war zeitlebens darauf erpicht, dass die Klavierbearbeitungen als erste herausgegeben wurden. Annähernd zeitgleich kamen allenfalls – und dies sicher aus aufführungspraktischen Gründen – die Orchesterstimmen und gegebenenfalls die Chorstimmen auf den Markt. Hinsichtlich des Partiturdrucks dagegen ist das Verhalten des Komponisten eher dilatorisch zu nennen, in einigen Fällen kann sogar von dessen absichtlicher Verzögerung gesprochen werden. Die Bevorzugung der Klavierbearbeitungen bei der Veröffentlichung des Werkes trifft auch für den vorliegenden Klavier-Auszug des Elias zu, und diese Tatsache hatte für dessen Bedeutung als musikhistorische Quelle weitreichende Konsequenzen.
Unmittelbar nach der Rückkehr von seinem vorletzten Aufenthalt in England, der seinen Höhepunkt in der Uraufführung des Elias am 26. August 1846 in Birmingham hatte, machte sich Mendelssohn an die Überarbeitung des Werkes, die von vornherein auf eine endgültige Fassung der Komposition und auf deren Drucklegung zielte. Damit trug er den Erfahrungen und Eindrücken der Aufführung in Birmingham Rechnung und setzte seine übliche kompositorische Praxis fort, nahezu alle seine Kompositionen nicht in der ersten Konzeption der Öffentlichkeit zu übergeben, sondern sie zuvor einer oder mehreren gründlichen Revisionen zu unterziehen. Hand in Hand mit dieser Überarbeitung ging die Erstellung des Klavier-Auszugs, und diese zeitliche Parallelität hat dazu geführt, dass die vielfältigen Quellen zu dieser reduzierten Fassung die Chance bieten, den Fortgang der kompositorischen Arbeit gewiss nicht lückenlos, aber doch in großen Zügen genau nachzuvollziehen. Das Autograph der Orchesterpartitur dagegen ist zu diesem Zweck kaum geeignet, da es alle Stadien des Werkes in sich fasst und keine näheren Rückschlüsse auf die Chronologie zulässt.
Grund für die außerordentliche Fülle an aussagekräftigen Dokumenten zur Entstehung des Klavier-Auszugs ist eine Verabredung, die Mendelssohn mit seinem englischen Verlag J. J. Ewer & Co. in London und dessen Leiter Edward Buxton einerseits und seinem deutschen Verlag N. Simrock in Bonn und dessen Leiter Peter Joseph Simrock andererseits getroffen hatte. Während der Druck von Stimmen und Partitur Simrock vorbehalten blieb, sollte der Klavier-Auszug gleichzeitig in beiden Verlagen erscheinen, und zwar mit zeitlichem Vorlauf der Produktion bei Ewer & Co. Der Londoner Verlag stellte sodann Abzüge seiner korrigierten Stichplatten des Klavier-Auszugs Simrock zur Verfügung, der damit eine zuverlässige Grundlage des eigenen Stichs, aber auch Gelegenheit zu weiteren Verbesserungen des Textes hatte. Die eigentliche Herstellung des Klavier-Auszugs geschah also in London, und dieser Umstand führte zu der großen Menge an Quellen, die den postalischen Weg zwischen der englischen Hauptstadt und dem Komponisten in Leipzig nehmen mussten.
Zentrale Quelle ist ein umfangreiches und aus vielen Einzelteilen zusammengestücktes Konvolut, das heute in der Bodleian Library, University of Oxford aufbewahrt wird. Es setzt sich im Kern aus den Einzelsendungen zusammen, die Mendelssohn als Herstellungsvorlage des Klavier-Auszugs an Edward Buxton sandte. So schickte er, um nur einige Beispiele zu nennen, am 30. November 1846 acht Stücke, am 30. Dezember weitere zwölf und damit den Rest des I. Teils nach London; am 2. Februar kündigte er die Sendung des gesamten II. Teils an. Die Komplexität der Quelle wird aber durch die Tatsache noch beträchtlich erhöht, dass sie keineswegs nur Eintragungen des Komponisten mit Tinte und Bleistift enthält, sondern übersät ist mit Notaten durch William Bartholomew, der seit 1841 wegen anderer Übersetzungen ins Englische mit Mendelssohn in Kontakt stand und auch jetzt die englische Version des Textes verantwortete. Mendelssohn hatte an vielen Stellen den englischen Text ausgelassen, sei es, weil er mit dessen Formulierung bei der Uraufführung einverstanden war, sei es, dass er Bartholomew um Änderungen ersuchte. Die Diskussion um Formulierung und Deklamation des englischen Textes wurde außerordentlich intensiv geführt und stellte den Hauptinhalt des Briefwechsels zwischen Mendelssohn und Bartholomew in jenen Monaten dar, der – neben der Korrespondenz mit Buxton – den Quellenbestand zum Klavier-Auszug um ein Weiteres bereichert. Möglicherweise zufällig liefert ein Brief an Bartholomew sogar den ersten chronologischen Anhaltspunkt für Mendelssohns Revision des Werkes und die Arbeit am Klavier-Auszug. Am 26. September 1846, also genau einen Monat nach der Aufführung in Birmingham, begann Mendelssohn die briefliche Diskussion über die englische Deklamation, die gewiss eine Fortsetzung der noch auf englischem Boden mündlich geführten darstellt; und die Rückseite seines auf Notenpapier geschriebenen Briefes an Bartholomew enthält bereits den Klavier-Auszug der Takte 35–52 des Quartetts Nr. [41A], über die der Brief allerdings kein Wort verliert.
Die Quellen zum Klavier-Auszug des Elias bieten also die außergewöhnliche, von der Mendelssohnforschung allerdings bislang kaum genutzte Chance, die Entstehung der definitiven Fassung eines großen Oratoriums minutiös nachzuvollziehen. Der Prozess ihrer Drucklegung ist darüber hinaus ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig England für Mendelssohn als eines der Zentren für seine künstlerische Entfaltung war. Das Oratorium wurde auf Deutsch konzipiert und komponiert, uraufgeführt dagegen wurde es in England und in englischer Sprache. Ja selbst die Erstaufführung der endgültigen Fassung fand in England, nämlich am 16. April 1847 in London statt und wurde daselbst am 23., 28. und 30. April 1847 – immer unter Leitung Mendelssohns – wiederholt. Eine Aufführung in deutscher Sprache hat der Komponist nicht mehr erlebt.
Berlin, Herbst 2009
Den vollständigen Text mit Fußnoten/Anmerkungen bieten wir als PDF zum Download an.