Udo Zimmermann (1943–2021) Lieder von einer Insel
[Vc,Orch] 2008/09 Dauer: 18'
Solo: Vc - Picc.4.1.1.3. - 1.1.0.0. - Schl - 2 Hfe - Klav - Str
UA: München, 15. Mai 2009
Das Eigene im Fremden. Der Komponist im Gespräch mit Peter Zacher
Peter Zacher: 1988 hast Du Dein erstes Instrumentalkonzert geschrieben, die Nouveaux Divertissements daprès Rameau, ein Hornkonzert für Peter Damm. Jetzt folgt, genau 20 Jahre später, ein Cellokonzert für Jan Vogler. Ging die Initiative von Dir aus?
Udo Zimmermann: Es war eher ein Aufeinanderzugehen. Das Violoncello hatte für mich schon immer eine besondere Bedeutung, von den Movimenti caratteristici für Violoncello solo bis hin zum Canticum marianum für 12 Celli. Es ist für mich unter den Streichinstrumenten das spannendste, unglaublich reich an Ausdrucksmöglichkeiten. Und Jan Voglers Art zu spielen deckt sich weitgehend mit meinen kompositorischen Intentionen.
PZ: War es schwer, das Komponieren nach so langer Pause wieder aufzunehmen?
UZ: Meine letzte kompositorische Arbeit liegt immerhin zwölf Jahre zurück. Eine so lange Pause zwischen zwei Kompositionen hatte es bei mir noch nie gegeben. Auch ein Geiger, der ein Jahr lang nicht gespielt hat, kann sich nicht in ein Weltklasseorchester setzen und losspielen, als wäre nichts geschehen. Ich fühlte mich teilweise völlig verunsichert, weil mir sogar handwerkliche Dinge nicht mehr zu Gebot standen. Da musste ich sogar auf Instrumental¬tabellen zurückgreifen, die ich als Student verwendet habe.
PZ: Ich kenne Dich lange genug, um zu wissen, dass Dir jeder Anfang einer Komposition extrem schwer gefallen ist.
UZ: Das ist richtig. Und in diesem Fall ganz besonders. Kann man einfach weitermachen, wo man zwölf Jahre zuvor aufgehört hat? In der Zwischenzeit hat sich viel verändert. Die Ästhetik ist eine ganz andere. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir die totale Irritation erleben: Es gibt einfach alles, alles ist möglich. Es existiert kein verbindliches Stilprinzip. Und es wird immer schwieriger, das Eigene im Vielen zu bestimmen und zu formulieren. Was dieses Stück letztlich ausmacht, ist eine seltsame Balance zwischen dem Eigenen und dem Fremden.
PZ: Hat Dir Jan Vogler irgendwelche Wünsche genannt, oder warst Du bei der Gestaltung völlig frei?
UZ: Es gab eigentlich keine konkreten Vorgaben von Jan Vogler. Selbstverständlich haben wir uns über ein paar Dinge verständigt. Aber es existierte von Anfang an eine erstaunliche Übereinstimmung. Die lyrische Kantilene und die Virtuosität sind die zwei zentralen Wesensmerkmale für ihn und dieses außergewöhnliche Instrument. Aber es ist eine besondere Form von Virtuosität, kein technisches Abarbeiten nach außen. Die Virtuosität besteht in einer Art Innenspannung.
PZ: Was hat es mit dem Titel auf sich?
UZ: Bei mir muss immer zuerst ein Titel da sein, mit konkreten, beinahe szenischen Assoziationen. Erst daraus entwickelt sich dann eine Vorstellung von der Musik. Ingeborg Bachmann Lieder von einer Insel von 1954 ist ein Text, der große Assoziationsräume öffnet, der eine Struktur vorgibt und der bei mir eine starke Affinität ausgelöst hat, weil er meiner Befindlichkeit entspricht. Es ist ein in besonderem Maße metaphysischer Text, weil es um Tod und Leben geht. Wir können nicht bleiben an diesem Ort. Alles ist Kommen und Gehen. Wie wir auch nicht wissen, wo diese Insel liegt irgendwo im Ungewissen.
Aber außer einem Gebets-Zitat von Franz von Assisi (Indulceam ubi est culpa) spielen noch drei weitere Texte für das Stück eine wichtige Rolle: Heine/Schumanns Ich hab im Traum geweinet, die Versöhnung von Else Lasker-Schüler und eine Passage aus Hyperions Schicksalslied von Hölderlin, dieses Doch uns ist gegeben / Auf keiner Stätte zu ruhn. Diese Texte kreisen um Liebe Abschied, Trauer und Unbehaustheit und sind im Grund alle miteinander verwandt, weil sie von einer großen Sehnsucht bestimmt sind.
(aus dem Programmheft der Uraufführung im musica viva-Konzert vom 15. Mai 2009)
CD:
Jan Vogler (Violoncello), Symphonieorchester des BR, Ltg. Kristjan Järvi
CD NEOS 11014