Isabel Mundry (*1963) Schwankende Zeit
Zyklus in 5 Teilen [(Vl),Ens] 2006–2009
Uraufführung des ersten und zweiten Teils: Köln, 8. Februar 2008
Uraufführung des dritten Teils: Luzern (Lucerne Festival), 19. August 2007
Uraufführung des vierten und fünften Teils: Köln, 27. Februar 2009
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In dem Zyklus Schwankende Zeit für Ensemble (2006/2009) hat es mich interessiert, das Ineinandergreifen von historischen Einflüssen und gegenwärtiger Imagination im Werk selbst transparent zu machen und auf verschiedene Weisen zu thematisieren. So besteht der Zyklus aus der Verschränkung zweier Bearbeitungen der „Préludes non mesurés“ von Louis Couperin mit drei neu entstandenen Kompositionen. Beide Klangsprachen, diejenige von Couperin und die von mir, stehen zwar einander gegenüber, doch ging es mir um die Reflexe zwischen ihnen, indem ich einerseits meine Hörperspektive auf die „Préludes“ strukturell durchleuchtet, und andererseits deren Spuren in meinen Neukompositionen thematisiert habe.
Die fünf Teile gliedern sich folgendermaßen:
I Non mesuré mit Louis Couperin I (2008/09) 10'
II Schwankende Zeit (2007/08) 12'
III Gefächerter Ort (2007/09) 14'
IV Non mesuré mit Louis Couperin II (2008/09) 12'
V Je est un autre (2009) 11'
Es beginnt mit dem Prélude in d-moll von Couperin, im Original für Cembalo komponiert und hier bearbeitet für siebzehn Instrumente. Diese Komposition ist dreiteilig. Der erste und dritte Teil sind rhythmisch offen und quasi linear komponiert, der Mittelteil besteht aus einem metrisch gebundenen Fugato.
Darauf folgt die Komposition Schwankende Zeit. Auch sie widmet sich, dem Prélude vergleichbar, aus wandelnden Perspektiven dem Phänomen Zeit, doch steht sie der Musik Couperins in vielerlei Hinsicht als Kontrast gegenüber. Statische Teile, verdichtete Momente, Prozesse, Schnitte, Annäherungen oder Auslöschungen von Klangereignissen werden hier fokussiert und beleuchtet. Zudem kristallisiert sich zeitweise ein Soloklavier heraus, was insofern eine Antizipation des Folgeteils bedeutet, als in diesem das Verhältnis von Soloinstrument und Ensemble konstitutiv wird.
In der dritten Komposition, Gefächerter Ort, kippt die Musik ins Räumliche. Das bis dahin verhältnismäßig geschlossene Ensemble wird um einige Instrumente erweitert, es zerlegt sich in einzelne Instrumentalgruppen und erzeugt sowohl räumliche als auch zeitliche Fächerungen um die Konturen einer Solovioline herum.
Das anschließende „Prélude à limitation de Mr. Froberger“ in a-moll besteht, wie das erste Prélude von Couperin, wiederum aus drei Abschnitten, in denen sich metrisch gebundene und offene Passagen abwechseln.
Waren bis dahin alle Teile des Zyklus durch Pausen voneinander getrennt, vollzieht sich nun eine Verwischung im Übergang zur Schlusskomposition Je est un autre. Die letzten melodischen Phrasen des Préludes werden bis in dessen Mitte hineingezogen, werden dabei bis ins Unkenntliche gedehnt, verzerrt, von anderen Geschehen überlagert, verfremdet, verschwinden gemacht und wieder hervorgehoben. Der Schlussakkord des Préludes ertönt schließlich gar nicht mehr, da die Musik weiter gezogen ist und sich anderen Perspektiven geöffnet hat. Doch nicht nur die Melodien von Couperin werden in die Schlusskomposition einbezogen. Ebenso enthält sie andere Rückbezüge auf die vorangegangenen Teile. So tritt zum Beispiel die Solovioline erneut hervor oder Sprechstimmen kommen hinzu, wie schon zuvor im zweiten Teil Schwankende Zeit. Neben den Rückbezügen werden andere Klangeschehen erstmals eingeführt, wie zum Beispiel Einspielungen von einem Band.
Während ich in den beiden Bearbeitungen der Frage von zeitlicher Ferne und Nähe angesichts einer alten Musik nachgegangen bin, reflektieren die Neukompositionen solche Phänomene mit autonom entwickelten Mitteln. In dem Schlussstück Je est un autre habe ich schließlich die eigene Musik ebenso wie die fremde zur Vergangenheit erklärt, um erneut auf beides aus einer anderen Perspektive zugehen zu können. Spätestens hier haben sich die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu verwischen begonnen. Immer wieder sind in den vorangegangenen Stücken des Zyklus bestimmte Aspekte hervorgetreten. Sie sind je aus unterschiedlichen Konstellationen hervorgegangen, haben also je ihre eigenen Begründungen gehabt, doch im Ganzen knüpft sich zwischen ihnen ein Netz von Gemeinsamkeiten. Sie erzeugen Erinnerungslinien.
Für die Schlusskomposition habe ich solche Linien aufzudecken gesucht, habe ihre Charakteristiken herauskristallisiert und daraus musikalische Typologien entwickelt. Auf diese Weise habe ich zuvor organisch entstandene Klangideen in eine Distanz gerückt und konnte gerade dadurch erneut auf sie zugehen. Die Typologien sind folgendermaßen zu beschreiben: Die Musik von Couperin, die Wiederholung, der Augenblick, das Rauschen und die Solostimme. Diese umspannen wiederum jeweils Felder von Möglichkeiten oder Ausdeutungen:
Couperin: Melodik, Ornament, Tonalität
Wiederholung: schwankende Pendelbewegungen bis hin zum Loop
Augenblick: Klangverdichtungen, Sprechstimmen, Atem- oder Knistergeräusche
Rauschen: von allen Musikern erzeugte Rauschflächen wie z. B. Reiben von Styropor, extreme Überlagerungen, Tonbandaufnahmen von Außengeräuschen oder Menschenmassen
Solo: hervortretende Violine, isolierte Atemgeräusche vom Band
Sind jedem dieser Aspekte einerseits Teile in der Schlusskomposition gewidmet, so relativieren sie sich gleichzeitig, da alle anderen immer untergründig präsent bleiben. So mischen sich zum Beispiel in die Ausklänge des Couperin-Préludes Aufnahmen von öffentlichen Räumen, die Sprechstimmen erstarren in Loops oder die Solovioline mündet ins Rauschen. Aus abstrakt kalkulierten Ordnungen ergeben sich immer neue Überlagerungen oder auch Isolationen der fünf genannten Typologien. Sie interpretieren sich in wandelnden Konstellationen gegenseitig, rücken einander in die Ferne oder Nähe, löschen sich gegenseitig aus oder lassen sich auseinander hervorgehen.
Innerhalb des Zyklus rekurriert die Musik auf ein Gedicht von Thomas
Kling, das ebenso musikalisch kontextualisiert wie von den Musikern in
einzelnen Momenten rezitiert wird:
des nachtz
di nacht (egal) singt;
mit träufndm augnpaar.
muß es ertragn.
Von der Silbeneinteilung her gesehen ergeben die Zeilen ein Haiku, zusammen mit dem Titel gesehen ein Gedicht, von der Bedeutung her ein Rätsel, einen eingefangenen Moment, einen Assoziationsraum oder eine Atmosphäre, von den Auslassungen einzelner Buchstaben her eine Schrift, die zum Bild mutiert oder eine Sprache, die in die Lautkomposition kippt, von der Zeilenaufteilung her eine Bewegung vom Allgemeinen di nacht (egal) über den Körper augnpaar hin zur Wahrnehmung muß es ertragn, von der Silbenzahl der einzelnen Wörter her gesehen eine sich zur Mitte hin erweiternde und an den Rändern sich verkürzende Form, von der Streuung der Vokabeln her gesehen ein Prozess. Im Ineinandergreifen all dieser Deutungsräume ermöglicht dieses kurze Gedicht ein stetes Umschichten der Wahrnehmung. Und doch bündelt sich die Mehrdeutigkeit im Rahmen einer konzisen Formgebung, da die auskomponierten Strukturen nicht nur irgendwohin, sondern ebenso auf sich selbst verweisen. Auf diese Weise durchkreuzen sich die Gezeiten: die Eigenzeit der kompositorischen Strukturen, die Zeitlichkeit der formulierten Assoziationsräume, meine eigenen Spiegelungen darin und schließlich mein zeitliches Teilhaben beim Lesen des Gedichtes. So geraten die Zeiten ins Schwanken, und erst dadurch ist ein Raum der geteilten Erfahrung freigesetzt.
(Isabel Mundry)
Bibliografie:
Sandberger, Wolfgang: Identität, Stabilität und Historizität. Der Zyklus Schwankende Zeit (2007-09) von Isabel Mundry, in: Isabel Mundry, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge, Sonderband), München: edition text+kritik 2011, S. 73-89.