Isabel Mundry (*1963) Ein Atemzug – die Odyssee
Musiktheater 2003/05 Dauer: 90' Text: Carolin Emcke, Giovanni Pascoli und Unica Zürn
Soli: MezKontraTBar – Chor: SATB(30 St) – 4.4.4.4. – 3.4.3.1. – Schl(4) – <br>Str: 19.0.8.5.4.Kammerensemble: Fl.Ob.Klar – Trp – Schl – Akk – Vl.Va.Vc
Uraufführung: Berlin, Deutsche Oper, 7. September 2005
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Besetzung:
Soli: Penelope (Sopran, experimenteller Gesang), Odysseus (Bariton, Darsteller), Athene/Hermes (Countertenor)
Orchester (auch räumlich verteilt): 4.4.4.4. 3.4.3.1. Schl(4) Str: 19.0.8.5.4.
Chor: 30 Stimmen (12S6A6T6B)
Kammerensemble (Solistische Musiker auf der Bühne): Fl.Ob.Klar Trp Schl Akk Vl.Va.Vc
ca. 14-16 Tänzer
Der Stoff
Die Odyssee lese ich als eine vielschichtig angelegte Erzählung von der Suche nach dem, was Heimat sein könnte: Sprachraum, Resonanzraum, Ort der Erinnerung, des Vergessens. Die Suche spiegelt sich in verschiedenen Figuren (Odysseus, Telemachos, Penelope und anderen) und auf verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung, und sie ist immer wieder davon gezeichnet, im handelnden Verstehen fremder Strukturen eigene Formen der Orientierung zu entwickeln. Die Gegenpole dieser Suche artikulieren sich in den Personen Odysseus und Penelope, bezogen auf die Parameter Raum und Zeit. Odysseus sucht seine Heimat räumlich. Permanent geworfen an unvertraute Orte mit fremden Landschaften, Sprachen, Gewohnheiten und Gefahren, begreift er, daß der individuelle und listenreiche Umgang mit der Fremde eine Spur entstehen läßt, die die Idee der Rückkehr präzisiert, je weiter er sich räumlich und zeitlich von der Heimat entfernt. Es ist bezeichnend, daß Odysseus Ithaka nach all den Heldentaten schließlich im Schlaf erreicht und nicht mehr erkennt. Erinnertes Bild und Gegenwart sind auseinandergefallen. Penelope hingegen entschwindet die Heimat gerade dort, wo sie räumlich immer gewesen ist. Ihr Hof wird von Freiern bevölkert, und es wird von ihr gefordert, ihnen Haus und sich selbst überlassen und fremde Gebräuche zu den eigenen zu machen. Penelopes listenreiches Verhalten konzentriert sich auf den Umgang mit der Zeit. Durch das nächtliche Auflösen des tags zuvor gewebten Teppichs schickt sie die Zeit in eine Schleife und relativiert somit das Tempo ihres Schicksals angesichts der Erinnerungen. So stellt sie dem allgemeinen Verlauf der Zeit ihr eigenes Maß entgegen ihre Heimat ist die Artikulation einer eigenen Zeit, geformt aus Erinnern und Vergessen.
Spätestens bei der Rückkehr nach Ithaka wird deutlich, daß Heimat nicht etwas unveränderlich gegebenes ist, keine Rekonstruktion sentimentaler Gefühle, sondern sich lediglich im Umgang mit Zeichen konstituieren kann, beim Eingeständnis, daß Kontinuitäten nicht von Dauer sind. Nur im Vergleich von Erinnertem und Gegebenem deutet Odysseus den fremd gewordenen Ort erneut als den eigenen, und dieser Vorgang erfaßt auch die Wiederbegegnung von Odysseus und Penelope. Im Zugriff auf Zeichen (z.B. Schlafstätte), die mehr erzählen als die Fremdheit bei der Wiederbegegnung, beginnen sie einander zu erkennen und zu erzählen ein Gespräch, das den Verlauf der Zeit still-stehen und nur noch das Ausmaß eines Augenblicks gelten läßt, getragen von der Zeit des gegenseitigen Erzählens.
Doch auch die Rückkehr bedeutet kein Ende der Reise. Odysseus verläßt nach einer Nacht den Hof erneut, um ein Orakel zu erfüllen, das ihm auf der Odyssee mitgegeben gegeben worden ist, ein Ruder über das Land zu tragen und dort einzugraben, wo die Menschen das Meer und den Geschmack des Salzes nicht kennen, und es dort einzugraben.
Gedanken
Es gibt viele Bücher, die ähnliche Phänomene beschreiben und mich im Vorfeld dieser Arbeit ebenfalls beschäftigt haben (Der Sturm von Y. Inoue, Das Zittern des Fälschers von P. Highsmith, Der Traum der roten Kammer und andere). Doch ich habe mich entschieden, den Stoff der Odyssee zu wählen, weil hier keine psychologischen Empfindungen, sondern Wahrnehmungsaspekte im Zentrum stehen, die uns vielleicht gerade deshalb wieder nah sind, weil wir die Erfahrung machen, wie wenig die flächendeckende Erschließung der Welt uns davor schützt, sich selbst im vertrautesten Raum dennoch fremd zu fühlen. Die Irrfahrten des Odysseus entziehen sich jeglicher geographischer Logik. Angesiedelt in einer Zeit, in der man noch nicht wissen konnte, was sich hinter einem Horizont verbirgt, stellen sie das Gegenbild unserer Gegenwart dar, in der wir in wenigen Stunden zum anderen Ende der Welt fliegen und uns selbst dort souverän zurechtfinden können. Doch je mehr die Geheimnisse der Welt durch Wissen enträtselt werden, umso mehr wirft es den Einzelnen auf die Rätselhaftigkeit des eigenen Seins zurück, das uns fremd bleibt, wie Odysseus seine Welt, und das niemals verraten kann, welcher Raum und welcher Augenblick uns an der nächsten Straßenecke entgegenkommt. Hier sehe ich eine Parallelität zur ästhetischen Wahrnehmung. Jenseits des Fortschrittsdenkens, das in den vergangenen Jahren zugunsten einer Breite ästhetischer Erfahrung auseinandergefallen ist, wirft uns gerade die Vielfalt von Möglichkeiten zurück auf die einfachsten Fragen: Was ist ein Ton, was sein Umfeld, was hält die Dinge zusammen, läßt sie auseinanderfallen, was ist Ferne, Nähe usw.? Indem ich komponierend die Odyssee lese, lese ich auch mit der Odyssee das Komponieren.
Musiktheatralische Konzeption
Für die musiktheatralische Umsetzung dieses Werkes, das sich auf der Schwelle von Mythos und Roman befindet, schien mir wesentlich, daß die Kategorien Raum und Zeit keineswegs stabile Größen sind, sondern durch die Handlung zum Gegenstand der Interpretation werden. Insofern habe ich mich entschieden, nicht ein ausgewähltes Kapitel umzusetzen, sondern die Komposition des ganzen Buches musikalisch zu bearbeiten, und beispielsweise wie im Buch die Musik in einem Moment beginnen zu lassen, in dem die Abenteuer des Odysseus bereits Vergangenheit sind. Diese werden im Verlauf des Musiktheaters dreimal aus verschiedenen Perspektiven erzählt: zunächst aus Perspektive des Götterrates als Ouvertüre in gestauchter Zeit, dann in Form der Erinnerung des Odysseus, und schließlich als Erzählung in der Wiederbegegnung von Odysseus und Penelope, wo die erinnerten Abenteuer nochmals schattenhaft angedeutet werden. Wesentlich für den dramaturgischen Verlauf erachte ich, daß nach zweifachem Durchlauf der erinnerten Abenteuer die Erzählebene bei der Rückkehr des Odysseus in der Gegenwart mündet. Hier vollzieht auch die Musik einen Schnitt. Im Gegensatz zu den rätselhaften Texten von Unica Zürn werden an dieser Stelle beschreibende Texte (Carolin Emcke) aus unserer Zeit von einem Band eingeblendet, verzahnt mit Orchesterflächen, die ebenfalls einen Bruch gegenüber der narrativen Zeitgestaltung des Vorangegangenen darstellen. Anschließend wird jene Odyssee des Erkennens und Verkennens fortgesponnen und in der Wiederbegegnung von Odysseus und Penelope neu ent- faltet, mündend in ein Ende, das gleichsam zu einem Anfang wird.
Die Vielfalt räumlicher Wahrnehmung in der Odyssee projiziere ich auf die Klangräumlichkeit: Es gibt ein kleineres Orchester im Orchestergraben, das bereits verräumlicht positioniert ist, ein im Publikumsraum verteiltes Orchester sowie ein solistisches Ensemble auf der Bühne, das den Raumklang wiederum nach innen projiziert. Szenisches Denken und die Dramaturgie des Raumklanges greifen ineinander. Die Landschaften der Abenteuer werden in der Erinnerung des Odysseus beispielsweise als sich permanent wandelnde Raumklänge auf der Bühne dargestellt. Auch die menschliche Stimme lotet Räumlichkeiten aus, vom intimen Geräusch des Atems über den Solistengesang bis zum Chor. Die Verschachtelung von Zeit spiegelt sich u. a. darin, daß die drei Darsteller (Penelope, Odysseus, Athene/Hermes) jeweils eine instrumentale Spur haben, die eine Zeitlichkeit artikuliert, die sich von den Personen löst. So singt Odysseus solange nicht, wie er unterwegs ist. Der Darsteller erhält erst eine Stimme nach Ankunft auf Ithaka und wird zuvor durch eine Trompete klanglich dargestellt. Penelopes Warten hingegen wird durch ein Akkordeon dargestellt, das wie eine Zeitschleife präsent ist und das andere Geschehen überlagert.
Der Entstehungsprozeß
Die Dramaturgie des Musiktheaters ist im Austausch mit Reinhild Hoffmann und Theresia Birkenhauer entwickelt worden. Immer wieder wollte ich prüfen lassen, ob die musikalische Imagination auch szenisch präzise ist, und so entwickelte sich ein Prozeß gegenseitiger Anregung. Da es mir nicht darum ging, die Handlung durch gesungene Texte zu transportieren, sondern die Wahrnehmungsvielfalt kompositorisch so zu reflektieren, daß Worte lediglich ein Element neben anderen sind, schien mir eine lineare Übertragung in das Genre Oper undenkbar zu sein. So stellt der Gesang nur eine Ebene des Szenischen dar. Gleichermaßen präsent ist die erforderte Bildsprache der Szene, nicht als Ornament, sondern als tragendes Element.
Es ging mir darum, das musikalische Denken in einer Weise zu präzisieren, daß es szenisches Denken ermöglicht, ohne auf erzählerische Aspekte im gesungenen Text zu rekurrieren. Das szenische Denken erklärt sich aus dem Zeichencharakter der Musik. Der auskomponierte Raumklang enthält beispielsweise direkt szenische Qualitäten, zu denen sich die Sprache der Bilder in Beziehung setzen kann. Die gesungenen Texte entspringen mehreren Quellen: Die Welt der Abenteuer wird in jenen Passagen, in denen Gesang überhaupt vorkommt, von ausgewählten Anagrammen von Unica Zürn getragen, die sich auf Momente der Odyssee beziehen lassen, ohne ursprünglich damit verbunden gewesen zu sein. Anagramme unterliegen dem strengen Regelwerk, allen Zeilen den identischen Buchstabenvorrat zugrundezulegen. Mit jeder Entscheidung für ein Wort schränkt sich der Rest der Möglichkeiten ein. Versucht man an einer Stelle Sinn zu gewinnen, so entsteht an einer anderen Unsinn. Auf diese Weise entwickeln sich sonderbare Wortgebilde zwischen Intention und Zufall. Die Odyssee beginnt hier im Inneren einer Zeile. Gelegentlich habe ich diese Reise mit meinem eigenen Wortspiel weitergesponnen. In dem Abschnitt nach der Rückkehr des Odysseus, der sich der Kriegsthematik in Ithaka widmet, werden Textpassagen von Carolin Emcke verwendet, die sich auf Kriegsbeobachtungen von heute beziehen und Fragen aufwerfen, die eine Korrespondenz mit der Odyssee zulassen. Und der Schluß, das nochmalige Aufbrechen des Odysseus, wird von Passagen aus Lultimo viaggio von Giovanni Pascoli bestritten, einem Buch, in dem die Rückkehr des Odysseus zu den Orten der Abenteuer imaginiert wird, verbunden mit der Erfahrung, daß sich kein Ort ein zweites mal auf gleiche Weise wiederfinden läßt.
Beschreibung der Hauptabschnitte
1. Gefaltete Zeit, Ouverture
Die Ouverture versteht sich im klassischen Sinne als eine Einleitung, die in einigen Minuten bündelt, was sich später weiträumig entfaltet.
Homers Odyssee beginnt in einem Augenblick des Stillstandes. Odysseus wie Penelope befinden sich wartend an getrennten Orten, und der Götterrat vergegenwärtigt sich ihre Situation angesichts der Unruhe, die in Ithaka entsteht. Vergegenwärtigung bedeutet hier Erinnerung in komprimierter Form, die dem Vergangenen eine Perspektive verleiht, um dem Geschehen eine Richtung zu weisen.
In eine ähnliche Situation begibt sich auch die Musik des Anfangs. Aus einem Moment des Wartens heraus erzeugt sie konzentrierte Augenblicke und Klangräume (innerhalb des im Orchestergraben verräumlichten Orchesters), um ineinanderzuschachteln, was sich später wieder zerlegen kann ähnlich wie eine Erinnerung, die das Nacheinander des Geschehenen in gestauchter Form überlagert, ähnlich auch wie ein Augenblick, dessen Ausmaß sich erst in der Zeit erweist.
3. Penelopes Atem
Penelope stellt das Gegenüber des Odysseus dar. Während Odysseus Suche nach der Heimat ihn auf einer großflächigen Irrfahrt bis an die Grenzen der Welt treibt, findet sich das Fremde bei Penelope (belagert durch die Freier Ithakas) inmitten ihres eigenen Hauses. Ihre Odyssee beginnt, wo der eigene Resonanzraum entschwindet.
Ein entscheidender Eindruck für die Interpretation der Penelope waren für mich zwei Reisen nach Chicago und Tokyo und die gegenläufigen Weisen, auf die sich beide Städte erschließen. Die Struktur Chicagos entspringt der architektonischen Setzung. Fasziniert von der Vielfalt gigantischer Gebäude, durchläuft man die Stadt mit dem Blick nach oben, läßt das Auge Glasfassaden und Designerwelten entlangwandern, um schließlich im Innern eines Fastfood-Restaurants das Gesicht eines einzelnen Menschen zu focussieren Spiegel der Stadt und zugleich eine Welt für sich. Die Lesart Tokyos geht in entgegengesetzte Richtung. Hier scheint das Geflecht der Großstadt einem Bonsai zu entwachsen, von dem aus sich Suppenküche, mittleres Wohnhaus, übereinandergelagerte Straßen, Hochhaus, Wolkenkratzer und schließlich Skyline erschließen. Beide Eindrücke relativieren die Gewißheit über Anfang und Ende des intimen und öffentlichen Raumes. Die Strecke zwischen meinem Auge und meiner Hand kann eine Irrfahrt sein, eine Großstadt die Einheit meines Ichs.
Ähnliche Wahrnehmungsstrukturen bestimmen die Komposition der Penelope, übertragen auf die Fragestellung, auf welcher Ebene sich Form und Gestalt konstituieren, ob ein einzelner Ton bereits eine Welt für sich, oder ein komplexes Klanggebilde nur einen Punkt in einem größeren Zusammenhang bildet.
Die Musik lotet die Variabilität solcher Relationen aus und entwickelt daraus ihre Form sowie ihre klangräumliche Gestalt. Ausgehend von der Polarität Stimme und Orchester, können sich beide Seiten Resonanzraum sowie fremdes Gegenüber werden.
5. Gefächerter Raum, Erinnerung an die Abenteuer
Die Abenteuersequenz geht wie die Ouverture auf einen Moment zurück, in dem ein Zeichen des Augenblicks die Erinnerung entfächert. Im Gegensatz zur Odyssee Homers habe ich hier mehrere Geschehen zusammengefaßt, um den auslösenden Moment der Erinnerung zuzuspitzen. Nachdem der Götterrat beschlossen hat, die Rückkehr des Odysseus zu ermöglichen, schickt er Hermes über die Meere zu Kalypso, um ihr die Anweisung zu geben, Odysseus heimfahren zu lassen. Der Weg zurück führt Odysseus zunächst zum Volk der Phäaken, denen er seine Abenteuer erzählt, und die ihn anschließend auf Schiffen nach Ithaka geleiten eine lang ersehnte Rückkehr, die Odysseus schließlich im Schlaf verpaßt.
In meiner kompositorischen Perspektive fallen der Wink des Hermes und das Einschlafen auf der Rückkehr ineinander, zugespitzt auf einen Moment, in dem die Ahnung der baldigen Heimkehr umschlägt in die unwillkürliche Erinnerung an die erlebte Irrfahrt. Zeitlich eingerahmt in einen Klang, der sich bei der Begegnung mit Hermes über den orchestralen Raum erstreckt und später bei der Rückkehr im Schlaf wiederum erklingt, fächern sich die erinnerten Abenteuer des Odysseus auf, vergleichbar mit einer Sequenz im Halbschlaf, in der verschiedene Bilder in unterschiedlicher Schärfe zum Vorschein kommen, und die Kürze des Träumens im Kontrast zur Dauer des Geträumten steht.
Die erinnerte Irrfahrt des Odysseus ist nicht nur eine zwischen labyrinthisch angeordneten Inseln, sondern ebenso eine zwischen unendlich weiten und aussichtslos verengtem Räumen. Die Vielschichtigkeit räumlicher Wahrnehmung sucht die Musik mit ihren eigenen Mitteln zu thematisieren, indem sie den Begriff des Raumes auf die Parameter Zeit und Klang erstreckt, wie auch auf den Ort der Klänge im Raum. In einem Spektrum, das sich von einem bis hinter das Publikum aufgefächerten Orchester bis zum Soloinstrument auf der Bühne erstreckt, werden Phänomene wie Ferne, Nähe, Geschlossenheit, Unendlichkeit, Enge und Weite auf vielfache Art thematisiert.
6. Krieg in Ithaka
Für die Interpretation der Rückkehr des Odysseus, die sich ähnlich komplex wie die Irrfahrt gestaltet, schienen mir zwei Aspekte bedeutsam zu sein, weil sie einen Umschlag in der bis dahin etablierten Erzählung bilden. Zum einen bricht hier in die Erzählung von Vergangenem die Gegenwart ein. Aus erinnerter Zeit wird die Jetztzeit einer Handlung. Zum anderen wird die Figur, die nach und nach vom Krieger zum kopflosen Abenteuer, später zum umsichtig Vermeidenden und schließlich zum Leid Ertragenen wird, an dieser Stelle wiederum zum Krieger und Leid Verursachenden. Eine Geschichte angereicherter Erfahrung kippt um in eine der Erneuerung der selbst erlittenenen Maschinerie.
Es schien mir beim Komponieren notwendig zu sein, an dieser Stelle mit den eigenen Mitteln zu brechen und Aspekte, die bis dahin die Musik getragen haben, wie Mehrdeutigkeit in Zeit- und Raumgestaltung, harmonische Semantik und polyphone Fächerung, zugunsten einer Zuspitzung auszuschalten. Zwei Ebenen stehen hier unvermittelt einander gegenüber: zum einen maschinenartig sich wiederholende, polymetrisch geschachtelte Orchesterflächen, zum anderen gesprochene Sprache von einem Band. Die Texte heben sich nicht nur in ihrer klaren Verständlichkeit von dem vorausgegangenen Gesang ab, sondern auch in ihren Inhalten, indem sie Beschreibungen aus unserer Zeit enthalten, präzise Beobachtungen von Randphänomenen heutiger Krisengebiete. Und dennoch: trotz der kontrastierenden Gegenüberstellung von Sprache und Musik gibt es Schnittmengen. So berühren die Textinhalte wie die Elemente der Musik die Themen Körper, Sprache und Ort.
7a. Wiederbegegnung
In der Wiederbegegnung mit Penelope konzentriert sich eine Erfahrung, die Odysseus seit seiner Ankunft in Ithaka in verschiedenen Stationen begleitet. Das Bild der Erinnerung und sein Widerpart in der Gegenwart sind auseinandergefallen. Odysseus erkennt jenes Ithaka nicht wieder, dessen inneres Bild ihm auf den Irrfahrten eine Orientierung gegeben hat, wie auch Penelope jenen Menschen für einen Fremden hält, dessen Erinnerung sie mit der Überlistung der Zeit wachhalten wollte. In mehreren Schritten thematisiert die Musik Phänomene der Annäherung und der Resonanz, zwischen Odysseus und dem Klang-Raum, der ihn umgibt, wie auch zwischen den Stimmen der beiden einander fremd gewordenen Protagonisten. Im Wiedererkennen liegt die Verschränkung von Erinnern und Vergessen. Es mündet im Erzählen - einem Augenblick, in dem Athene die Zeit anhält, um dem objektiven Maß der Zeit jene Eigenzeit entgegenzusetzen, die ein Moment des Verstehens für sich braucht.
7b. Fortgang
Der Schluß bezieht sich auf eine Prophezeiung, die fast unbemerkt im Inneren des Buches im Hades von Theresias formuliert wird. Odysseus solle nur eine Nacht bei Penelope verweilen, um anschließend das Ruder seiner Reise über Land an einen Ort zu tragen, wo die Menschen es für eine Schaufel halten und den Geschmack des Salzes nicht kennen. Dort solle er das Ruder eingraben.
Ich weiß nicht, ob ein solcher Ort inmitten einer Insel zu finden ist, und so lege ich dem Ende der einen Odyssee, das zum Anfang einer Folgenden wird, die Worte Pascolis in den Mund, die die Aussage Ich bins mit der Frage Wer bin ich? ineinanderfallen lassen.
(Isabel Mundry)
Bibliografie:
Gerhard, Kristina: Der Raum- und Zeitbegriff im Werk Isabel Mundrys unter besonderer Berücksichtigung ihres Musiktheaterwerks Ein Atemzug die Odyssee, Diplomarbeit der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Wintersemester 2005/06.
Hagedorn, Volker: Carlos Wut, Penelopes Atem. Konzepte der Liebe in der Musik vom Minnesang bis zur Moderne, in: 128. Das Magazin der Berliner Philharmoniker, 2016, Heft 2, S. 17-22.
Hiekel, Jörn Peter: Ein Theater der Suchbewegungen. Zum Musiktheaterwerk Ein Atemzug die Odyssee, in: Isabel Mundry, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge, Sonderband), München: edition text+kritik 2011, S. 19-36.
ders.: Die Kunst des Übergangs. Einige Neuansätze im Musiktheater der letzten Jahrzehnte, in: Neue Zeitschrift für Musik 177 (2016), Heft 3, S. 18-24.
Mundry, Isabel: Gefaltete Zeit. Über die Verschränkung von Erinnern und Vergessen in meinem Musiktheater Ein Atemzug die Odyssee, in: Resonanzen. Vom Erinnern in der Musik (= Studien zur Wertungsforschung, Band 47), Wien u. a.: Universal Edition 2007, S. 205-220.
Mundry, Isabel: Verborgene Korrespondenzen, in: High Low. Hoch- und Alltagskultur in Musik, Kunst, Literatur, Tanz und Kino, hrsg. von Corina Caduff und Tan Wälchli (= Kaleidogramme 25), Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007, S. 27-37.
1. Gefaltete Zeit (Ouvertüre) |
2. Überleitung |
3. Penelopes Atem [Sopran, Akkordeon, Orchester] |
4. Hermes Weg über das Meer |
5. Lotophagen – Zyklop – Äolus, Lästrygonen – Kirke – Aides – Sirenen – Skylla und Charybdis – Helios – Rückkehr im Schlaf |
6. Krieg in Ithaka |
7. Wiederbegegnung – Fortgang |