Helmut Lachenmann (*1935) Streichquartett Nr. 3 „Grido“
[2Vl,Va,Vc] 2001 Dauer: 28'
Uraufführung: Melbourne, 2. November 2001
Gewinner des Royal Philharmonic Society Award 2004 in der Kategorie Kammermusik
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Komponieren bedeutet für mich jedes Mal, wenn schon nicht
„ein Problem lösen“, so doch mich mit einem Trauma, angstvoll/lustvoll, auseinandersetzen und anhand solcher empfundener und angenommener kompositionstechnischer Herausforderungen eine klingende Situation verursachen, die mir selbst wenn nicht neu, so doch fremd ist, und in der ich mich verliere und so erst recht mich wiederfinde. Das klingt gewiss sehr privat, aber jenes „Problem“, jenes „Trauma“ verkörpert immer wieder auf andere Weise die kategorische Frage nach der Möglichkeit einer authentischen Musik in einer Situation, wo dieser Begriff kollektiv verwaltet scheint und durch seine Ubiquität und totale Verfügbarkeit in einer von „Musik“ (= auditiv inszenierter Magie für den Hausgebrauch) überschwemmten, saturierten und durch standardisierte Dienstleistung stumpf gewordenen Zivilisation fragwürdig geworden ist. Jene Problematik und jene Fragwürdigkeit ist eine unbewusst erkannte und verdrängte Realität, sie ist die Außenseite unserer, nicht weniger realen verdrängbaren aber auch erkennbaren inneren Sehnsucht nach befreiten Räumen für den wahrnehmenden Geist: nach „neuer“ Musik.
Mein drittes Streichquartett reagiert auf diese Aspekte sozusagen unter erschwerten Bedingungen, denn in zwei vorangegangenen Arbeiten für dieselbe gute, alte, ehrwürdige und traditionsbeladene Besetzung habe ich, gewiss unter anderen inneren Voraussetzungen und jedes Mal mit einem anderen Erfahrungshintergrund, mich diesem Bewältigungsspiel ausgesetzt. Der „GRAN TORSO“ aus dem Jahre 1971 und der „REIGEN SELIGER GEISTER“ von 1989 markierten Wendepunkte in meiner kompositorischen Praxis. In „GRAN TORSO“ exemplifizierte ich einen – meinen – Materialbegriff, der, statt sich an intervallisch-rhythmisch-timbrischen Bedingungen zu orientieren, von der konkreten Energie bei der Klanghervorbringung ausging und den ich damals – provisorisch, aber bis heute unrevidiert – als „musique concrète instrumentale“ etikettierte, wobei ich aus dem Streichquartett einen sechzehnsaitigen Spielkörper machte, der – klingend, rauschend, behaucht, gepresst – mit seiner Körperlichkeit auf Traktierungen reagierte, in denen das traditionelle Spiel nur eine spezifische Variante des Umgangs mit dem Apparat darstellte. Mein zweites Quartett, der REIGEN, 18 Jahre später, konnte nur dadurch darüber hinausgehen, dass es eine einzige der damals entwickelten Spielweise focussierte, nämlich diejenige des drucklosen Flautato-Spiels, bei welchem Töne eher als Schatten von Geräuschen (oder umgekehrt Geräusche bzw. tonloses Rauschen als Schatten von intervallisch präzise kontrollierten Tönen und Sequenzen) fungieren, eine Focussierung, das heißt Verfeinerung und vielfache Abwandlung, die ihrerseits sich ins diametral Entgegengesetzte, in Pizzicato-Landschaften, quasi rückwärts abgespielten Aufnahmen von abrupt crescendierenden Bogenschwüngen, transfomierte, wobei sich tatsächlich eine andere bzw. anders gepolte Klang- und Ausdruckswelt auftat. Mit diesen beiden Werken meinte ich das Trauma Streichquartett bewältigt zu haben, zumal ich ziemlich genau auf halbem Wege zwischen diesen beiden Arbeiten, nämlich 1980 in meiner „TANZSUITE MIT DEUTSCHLANDLIED“, einer Art Konzert für Streichquartett und Orchester, mich mit dieser Formation ebenfalls beschäftigt hatte.
Und jetzt? Was macht Robinson Crusoe, wenn er seine (seine?) Insel erschlossen glaubt? Wird er erneut sesshaft, kehrt im selbst eingerichteten Ambiente zur bürgerlich-behaglichen Lebensweise zurück? Sollte er das Errichtete heroisch wieder niederreißen, sollte er sein Nest verlassen? Was macht der Wegsuchende, wenn er bereits sich Wege durchs Unwegsame gebahnt hat??
Er stellt sich bloß und schreibt sein „Drittes Streichquartett“ ... Denn der selbstgefällige Schein trügt: nichts ist erschlossen ... „Wege“ in der Kunst führen nirgendwo hin und schon gar nicht zum „Ziel“. Denn dieses ist nirgends anderswo als hier – wo das Vertraute nochmals fremd wird, wenn der kreative Wille sich daran reibt – und wir sind blind und taub.
Das Werk ist den Musikern/Freunden des Arditti-Quartetts gewidmet:
Graeme Jennings, Rohan de Saram, Irvine Arditti, DOv Scheindlin
(Helmut Lachenmann)
CDs:
Arditti String Quartet
CD Wittener Tage für neue Kammermusik 2002
Arditti String Quartet
CD KAIROS, 0012662KAI
stadler quartett
CD NEOS 10806
The JACK Quartet
CD mode 267
Stadler Quartett, Rg. Caroline Siegers
DVD NEOS 51001 (2016)
Bibliografie:
Alberman, David: Abnormal Playing Techniques in the String Quartets of Helmut Lachenmann, in: Helmut Lachenmann Music with matches, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 24 (2005), Vol. 1, S. 39-51.
Cavalotti, Pietro: Diagramme und Operative Bildlichkeit im Kompositionsprozess Helmut Lachenmanns, in: Helmut Lachenmann: Musik mit Bildern? Hrsg. von Matteo Nanni und Matthias Schmidt (= eikones, hrsg. von Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik an der Universität Basel), München: Wilhelm Fink 2012, S. 117-139.
Dulaney, Maxwell: Continuing the Tradition Untraditionally: Helmut Lachenmann’s Restructuring of Musical Dialectic through an Analysis of his Three String Quartets, and an Original Composition, Harmonic Concerto, Diss. Brandeis University, MI 2013.
Egger, Elisabeth: Kontinuität, Verdichtung, Synchronizität. Zu den großformalen Funktionen des gepressten Bogenstrichs in Helmut Lachenmanns Streichquartetten, in: Musik als Wahrnehmungskunst. Untersuchungen zu Kompositionsmethodik und Hörästhetik bei Helmut Lachenmann, hrsg. von Christian Utz und Clemens Gadenstätter (= musik.theorien der gegenwart 2), Saarbrücken: Pfau 2008, S. 155-171.
Hiekel, Jörn Peter: Die Streichquartett Gran Torso und Grido von Helmut Lachenmann, in: Lucerne Festival, Sommer 2005 Neuland, Konzertprogramm 6, S. 65-69.
Hüppe, Eberhard: das bewegte streichquartett. Von Grido zu Double (Grido II), in: Neue Zeitschrift für Musik 167 (2006), Heft 2, S. 44-47.
Jahn-Bossert, Hans-Peter: Fear of ? Essayistic Miniatures on Grido, in: Helmut Lachenmann Music with matches, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 24 (2005), Vol. 1, S. 31-38.
ders: Schöne Stellen. Verwundungen in Lachenmanns jüngsten Werken, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 46), Mainz u. a.: Schott 2006, S. 59-72.
Kuhn, Hans Niklas: Helmut Lachenmann. Grido und Double, in: Lucerne Festival, Sommer 2005 Neuland, Konzertprogramm 7, S. 36-41.
Mosch, Ulrich: Kunst als Medium der Ungeborgenheit. Streichquartette und soziale Funktion des Komponierens bei Helmut Lachenmann, in: Positionen 81 (November 2009), S. 37-39.