Helmut Lachenmann (*1935) SCHREIBEN
[Orch] 2003/04 Dauer: 25'
3(3Picc.A-Fl.B-Fl).4.3.0 – 4.3.3.2 – Schl(5) – 2Klav – Str: 8.8.8.8.8.8
Uraufführung: Tokio/Japan, 4. Dezember 2003
Zur DVD mit Lachenmann-Interview, Teilproben und Aufführung
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Meine eigene neue Orchesterkomposition hat den Titel „SCHREIBEN“. Die praktische Aktion des Schreibens, als mechanisches Einwirken per Hand, Stift, Pinsel, auf eine Fläche (Papier, Pergament, Stein etc.), ausgelöst und gesteuert von einem kommunikativen Bedürfnis und, bei aller Spontaneität, beherrscht durch die Regeln von Schrift und Sprache, ist für mich einer der geheimnisvollsten Vorgänge im zwischenmenschlichen Alltag, bei dem menschlicher Geist und tote Materie einander begegnen: Gedanken bzw. Gedachtes werden auf einer Fläche - Papier, Pergament, Stein - festgehalten, ihr sozusagen anvertraut. Und auf diesem Umweg über Sprache, Schrift und Gravur begegnen sie dem Geist des lesenden oder entziffernden Mitmenschen. Als Komponist aber frage ich: gibt es auch einen anderen Kausalitätszusammenhang, gibt es z. B. ein „autonomes“ Schreiben, eine sinn-freie Zeichengebung, durch entfesselte, losgelassene Fortbewegung der schreibenden Hand, wo der Schreibende seinem eigenen Schreiben nur noch staunend zusieht?
Werden nicht in Japan Bilder, auch „abstrakte“, geschrieben???
(In einem Underground-Film der 70er-Jahre über den jungen Mozart sieht sich der Zuschauer versetzt in ein Zimmer eines italienischen Gasthauses, in dem der junge durchreisende Mozart am Tisch eilig die Rezitative einer seiner italienischen Opern zu Papier bringt. Mehr als eine Viertelstunde lang sind wir dabei, hören nicht die entstehende Musik, sondern das nervöse Kratzen der Feder auf dem groben Notenpapier in nachmittäglicher Stille - nur der gleichmäßige Pendelschlag der Wanduhr ist noch zu hören -, und wir erleben diese sekundäre Klangwelt kaum weniger intensiv als nachher andere Hörer die dabei stumm entstehende Musik.)
Das Orchester in meinem Stück „schreibt“. Es fügt Strich zu Strich, versteht sich selbst als eine Art vielfältiges „Schreib-Gerät“. Wir als Hörer lesen nicht das „Geschriebene“, aber wir hören den Vorgang des Schreibens, den Bogenstrich, die Bewegung des scharrenden Holzstabs auf Fell oder Tamtam, und wir beobachten dessen Imitation bzw. Transformation durch - zeitweise auch tonlos - sich zu linearen Gestalten verbindende Blasinstrumente als eine Art klingender Schreib-Zeremonie. Es ergibt sich eine Musik, die gelegentlich ihren gedanklichen Ausgangspunkt vergisst und sich als autonome Klang-Situation fortentwickelt und verwandelt, und die schließlich im höchsten Register eine Art „Kantilene“ be-schreibt.
Wer das deutsche Wort „Schreiben“ (engl. „to write“) schreibt, der schreibt dabei auch unweigerlich das Wort „Schrei“ (engl. „shout“), und er schreibt auch das Wort „reiben“ (engl. „to rub“). So emotional der erste Begriff gedacht werden kann, so nüchtern-praktisch ist der zweite. Von beiden Aspekten, samt ihrer Gegensätzlichkeit, ist mein Stück geprägt.
(Helmut Lachenmann, 2003)
Zusatz: Unmittelbar nach der wunderbaren Uraufführung des Stückes 2003 in der Suntory Hall, zusammen mit meinem Klavierkonzert „Ausklang“ - liebevoll und konzentriert einstudiert und souverän gestaltet durch Maestro Kazuyoshi Akyama, dem das Werk gewidmet ist, und mit dem ich mich seit 40 Jahren in großer Bewunderung und Dankbarkeit verbunden fühle -, habe ich „SCHREIBEN“ revidiert und um ca. 40 Takte erweitert. Und so kehrt es, nach vielen weiteren Aufführungen in Europa, endlich wieder an seinen Geburtsort zurück.
(Helmut Lachenmann, 15. Juni 2012)
CDs/DVD:
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling
CD KAIROS 0013342KAI
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Susanna Mälkki
CD NEOS 11424
Orquesta Sinfónica de Musikene, San Sebastián, Ltg. Arturo Tamayo
DVD „Lachenmann-Perspektiven 7“ (Breitkopf & Härtel, BHM 7817)
Bibliografie:
Hermann, Matthias: Kreativität und Struktur. Kompositorische Verfahren Neuer Musik zwischen 1977 und 2003, Saarbrücken: Pfau 2015 (dort S. 181-220).
Jahn, Hans-Peter: „Schöne Stellen“. Verwundungen in Lachenmanns jüngsten Werken, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 46), Mainz u. a.: Schott 2006, S. 59-72.
Linke, Cosima: Schreiben‹ als Differenz von Stille und Klang. Aspekte der musikalischen Form in Helmut Lachenmanns „Schreiben. Musik für Orchester“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 13 (2016), S. 117–149.
dies.: Konstellationen - Form in neuer Musik und ästhetische Erfahrung im Ausgang von Adorno. Eine musikphilosophische und analytische Untersuchung am Beispiel von Lachenmanns „Schreiben. Musik für Orchester“, Mainz: Schott 2018.
Nonnenmann, Rainer: Schreiben ist Wirklichkeit. Gravuren des Realen in Lachenmanns Orchesterwerk „Schreiben“, in: Zurück zur Gegenwart? Weltbezüge in neuer Musik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 55), Mainz: Schott 2015, S. 138-158.