Udo Zimmermann (1943–2021) Die wundersame Schustersfrau
Oper in 2 Akten 1981 Text: Eberhard Schmidt und Udo Zimmermann
15 Solisten Spr – 2.2.2.1. – 2.2.2.1. – Pk.Schl(2) – Hfe.Git – KlavCel – Str / BM: Fl.Git.Akk
UA: Schwetzingen (Schwetzinger Festspiele), 25. April 1982
AD: abendfüllend
Libretto: Udo Zimmermann und Eberhard Schmidt nach dem gleichnamigen Bühnenwerk von Federico García Lorca in der deutschen Nachdichtung von Enrique Beck
Ort und Zeit: Im Schustershaus, zunächst als Werkstatt, dann als Schenke
Personen: Schustersfrau (Sopran) - Schuster (Bassbariton) - Gelbe Nachbarin (Sopran) - Grüne Nachbarin (Sopran) - Violette Nachbarin (Mezzosopran ) - Rote Nachbarin (Alt) - Schwarze Nachbarin (Alt) - 2 Töchter der Roten Nachbarin (Soprane) - Küstersfrau (Mezzosopran) - Bürgermeister (Bass) - Bursche mit der Schärpe (Tenor) - Bursche mit Hut (Bariton) - Knabe (komponierte Sprechstimme, Mezzosopran)
Eine schöne junge Frau ist mit einem wesentlich älteren Schuster verheiratet, was im Dorf zu allerlei Tratsch und Unruhe führt. Der Schuster leidet unter dem Gerede, seine Frau schafft sich ihre eigene Welt aus Träumen und Phantasien. Lediglich einem Nachbarjungen gewährt sie Zugang zu ihrer inneren Welt. Dem Druck nicht gewachsen, verläßt der Schuster das Dorf. Die Schustersfrau richtet nun in der Werkstatt eine Schenke ein. Sie bleibt ihrem Mann treu, resigniert aber innerlich und erkennt ihn nicht, als dieser als Puppenspieler verkleidet ins Dorf zurückkehrt. Als sich der Haß der Dorfbevölkerung nach einer Messerstecherei auf die Schustersfrau zu entladen droht, gesteht sie dem Puppenspieler die Liebe zu ihrem Ehemann.
Von diesem Bekenntnis überwältigt, gibt sich der Schuster zu erkennen. Beide liegen sich in den Armen, während die Aggression der Dorfbewohner weiter wächst. Udo Zimmermann hat als Reminiszenz an den Gestus spanischer, auch von Lorca bevorzugter Musizierweisen Volksmusik-Zitate und eine von Lorca selbst verfaßte Melodie im Stile des andalusischen Volkstanzes Zorongo eingearbeitet. Stark prägend wirkt in der ganzen Komposition der ‘Cante jondo’ eine Intonation aus Andalusien, die stets zwischen Dur und Moll schwankt und nie in die Tonika mündet.
„Im Sommer 1978 bot mein Schreibtisch einen Anblick, der etwas Verwirrendes hatte. Bücher, Partituren, Notenblätter, Zettelstöße, alles lag gehäuft da. Und alles bezog sich auf Federico Garcia Lorca. Ich hatte mir die dramatischen Werke des großen Andalusiers besorgt, seine gedruckten Äußerungen über Dichtung und Theater, seine Aufzeichnungen über den berühmten »Cante jondo«, über andalusische und maurische Intonationen, seine Volksliedbearbeitungen; Partituren von Fortner, Henze und Nono, die Lorca-Vertonungen enthielten; viel über Lorca und über »Musik in Lorcas Dichtung«. Dazu kamen die eigenen Notizen, festgehaltene Gedanken über dramaturgische Abläufe, musikalische Strukturen, szenische Absichten, Entwürfe, Skizzen, Zitate (»Gehen wir, um zu gehen. Gehen wir, um nicht anzukommen«). Alles diente der Reflexion über das Vorhandene und der Projektion auf das zu Erarbeitende: das beabsichtigte Werk. Es begann die Arbeit an einem Vorhaben, das »Die wundersame Schustersfrau« hieß, einer Oper nach Lorcas gleichnamigen Schauspiel.
Als ich nach dreijähriger Arbeit zur letzten Szene des Werkes kam, hielt ich als Regieanmerkung fest: „Die Musik intoniert einen Walzer. Die Schustersfrau scheint noch einmal, für wenige Augenblicke, in einer »anderen Welt«, an jenem »anderen Ufer, wo sie weder hinkommen kann noch wird«. Wieder beginnt sie zu tanzen. Aber ihre Bewegungen wirken - entgegen der Musik - schwerfällig, mühevoll, unbeholfen. Schließlich klammert sie sich an einen Stuhl, auf dem sie zusammensinkt. Gleichzeitig erhebt sich der Schuster von seinem Arbeitstisch. Betroffen, scheinbar verständnislos, schaut er auf seine Frau. Langsam hebt sie den Blick und schaut ihren Mann hilflos oder hilfesuchend an. Die Szene scheint diesen Augenblick gleichsam »einfrieren« zu wollen, Situation und Figuren verändern sich nicht mehr, wie zu einer Fotografie verfestigt, die uns mit zunehmender Dunkelheit der Bühne mehr und mehr entrückt. Nur die Musik bleibt gegenwärtig: noch immer klingt der Walzer, wenn auch merkwürdig gebrochen, dennoch nicht ohne Reiz geheimnisvoll poetischer Assoziation, behaftet mit der symbolischen Wirkung ständig fortschreitender Zeit ..."
Auf der ersten Seite der Partitur steht also die Sicht des Dichters auf sein Werk, geschrieben wenige Tage vor der Uraufführung. Was auf den folgenden mehreren hundert Partiturseiten geschrieben steht, sind Versuche eines Komponisten, sich mittels seiner spezifischen Möglichkeiten, also mit Musik, dieser Sicht zu nähern. Er ist auf musikalisches Verstehen einer dramatischen Situation aus und darauf, Musik durch das Verhalten der Figuren in dieser Situation verständlich zu machen. Das überaus komplizierte, dialektische Verständnis von Musik und dramatischer Handlung, das Sich-Bewußt-Machen eines theatralischen Vorgangs im Musikalischen und eines musikalischen Vorgangs im Theatralischen, erfordert vom Komponisten beharrliches Sich-Befragen nach Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit, Selbstprüfung seiner Leidenschaft in einer Sache, in die er sich selbst mit einbringt.
Es geht um die andere Dimension, die hier einzubringen ist, um das bereits vom Dichter in seiner Sprache, mit seinen künstlerischen Mitteln Vorgegebene noch einmal, auf andere Weise und durch andere Mittel, zu wiederholen, um etwas mitzuteilen, das einzig durch die Musik mitgeteilt werden kann. Die Klärung einer Situation muß sich musikalisch vollziehen, durch klangliche Äußerungen instrumentaler oder vokaler Art, besser durch instrumentales oder vokales Verhalten. Und die Musik kann mehr noch tun, kann Dinge hörbar werden lassen, die im Text unausgesprochen bleiben, die hinter den Figuren und Situationen nur erahnbar scheinen. Etwas, das unausgesprochen bleibt, wird plötzlich ausgesprochen, nur eben mit einer anderen Sprache, der Sprache der Musik.
Die Schustersfrau ruft die Welt ihrer Träume in die Realität ihres Lebens. Fantasie und Wirklichkeit sollen eine Einheit werden. Aber sie sind unvereinbar, und jede Brücke, die verbinden soll, muß letztlich Hoffnung, Wunsch ohne Erfüllung bleiben. Aber sind es nicht Hoffnung, Wunsch und Traum, die unser Leben so faszinierend, so lebenswert, so eigentlich lebendig machen? Gäbe es dieses »andere Ufer« nicht, zu dem wir nie gelangen können, das wir aber dennoch wieder und wieder ersehnen, um wieviel ärmer wäre nicht die Kunst und erst das Leben?
(Zimmermann)
CD (Ausschnitte):
Lisbeth Balslev (Sopran), Franz Grundheber (Bariton), Udo Krekov (Bass), Hildegund Uhrmacher (Sopran), Yoko Kawahara (Sopran), Gertrud von Ottenthal (Mezzosopran), Olive Fredericks (Alt), Ursula Boese (Alt), Cedric Rosstauscher (Knabenmezzo), Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Ltg. Peter Gülke
CD BMG 74321 73543 2