Helmut Lachenmann (*1935) NUN
[Soli,MCh,Orch] 1997-1999/2003 Dauer: 38'
Soli: Fl,Pos – TTTTBBBB – 3(3Picc).4.3.0.Kfg. – 4.3.0.2. – Pk.Schl(3) – Hfe.Egit – Str: 16.8.8.8.8.
Uraufführung: Köln (Musik der Zeit), 20. Oktober 1999
Uraufführung der revidierten Fassung: Berlin, Konzerthaus, 17. Januar 2003
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Vielleicht so etwas wie ein „Parergon“ zu meiner Mädchen-Oper
Zwei Klangquellen – unter ambivalenten Aspekten zugleich homogen und heterogen, nicht so ohne weiteres zusammenpassend: – Posaune und Flöte/Bassflöte – (mit Resonanzen aus zwei Konzertflügeln), 8 Männerstimmen – alle erzeugen Töne, und Luft, Zweiklänge, Vibrationen, Schwebungen, Rattern, Konsonanzen. Und rattern und sprechen – und japsen, Orchester mit 4 Oboen, 3 Flöten, 3 Klarinetten, zwei Kontrafagotten (unterbeschäftigt), 4 Hörner, drei Trompeten, keinen Posaunen, 2 Tuben, die in der Tiefe rappeln, zwei Klavieren, Gitarre-Harfe, Streicher („Perforateure“), 3 Schlagzeuger, rappeln (Fellwirbel), – und schwingen China-Becken durch die Luft, dämpfen aus und vorzeitig ab („japsen“) und: halten aus.
Musik zum Aushalten, ist nicht zum Aushalten.
Ein Orchester mit vielen Unisono-Quellen
Es ist immer wieder auf andere Weise – jedes Mal das gleiche:
Musik, nicht als Text, nicht als diskursiver Verlauf, gar als klingendes Drama, – eher eine Art künstliches und als Produkt einer komplexen Spekulation zugleich transzendentes Natur-Schauspiel, als „reine“ Präsenz – (Das sind allerdings Wort-Hülsen, die schlecht an das erinnern, was sie nicht mehr zu nennen, zu fassen wagen bzw. imstande sind. Begriffe, die es abzurufen und zugleich im Blick auf die Sache selbst auszustreichen gilt.):
Sie zu beschwören, ohne dabei in schlecht besinnliche „meditative“ Idyllen, bzw. idyllische Standards zu verfallen, gehört zu meinen zentralen Utopien –
Ihre Wünschbarkeit/Stringenz/existentielle Notwendigkeit, „Wahrheit“ ist hienieden nicht zu trennen von ihrer Unmöglichkeit, wegen der Standardisiertheit aller Mittel, auf der ihre Verwirklichung, ihre Anpeilung, ihre Ins-Werk-Setzung verwiesen ist.
Aber: alles soll/wird in dieser wie auch immer vermittelten Präsenz berührt, erlöst, befreit sein.
Kann man Erfahrungen, deren Unmöglichkeit, deren Verschüttetheit man sich bewusst macht, vermitteln durch den Kampf gegen diese Unmöglichkeiten, Verschüttetheiten (= Unfreiheiten)???
Wer bin ich? Was ist das: das ich, das solche Suche, solches Abenteuer, solchen Kampf gegen die Materie auf sich nimmt??
Das „Ich ist kein Ding, sondern ein Ort“ (Kitaro Nishida – aber ich bin kein Buddhist, und auch kein Zen-Mönch, sondern ein Anfänger in allem, auch im Komponieren des jeweilig konzipierten Stücks.)
Das Wasser wäscht das Wasser nicht – das Feuer verbrennt das Feuer nicht – der Schmerz selbst tut nicht weh. Der Genuss genießt nicht. Das Hören hört nicht, das Leben lebt nicht – und so lebt es. Das Ich ist nicht das ich. Musik ist nicht Musik, ist Nicht-Musik: die einzige Musik, die den Namen in seiner emphatischen Bedeutung verdient. Musik sei Nicht Musik?? Sondern?? Ja – sondern. Komponieren heißt: sondern.
Utopien kompositorisch zu beschwören, bedeutete für meinen Mechanismus stets: ihre Verschüttetheit. Und das was – nicht zufällig – sie verschüttet hat. Oder zu verschütten droht, in den Griff zu nehmen.
Helmut Lachenmann (Skizze)
Mitten in meiner Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – nach Hans Christian Andersen –, die im winterlichen eiskalten Kopenhagen spielt, gibt es einen Sprung in die mediterrane Vulkanlandschaft Süditaliens, wo – nach einem Text von Leonardo Da Vinci – „die Schwefelfeuer den großen Berg öffnen, um Steine und Erde samt den heraustretenden und herausgespieenen Flammen durch die Luft zu schleudern“, und im Ausbruch „jedes Hindernis verjagen, das sich ihrem ungestümen Wüten entgegenstellt“.
Leonardo sieht in diesem Naturvorgang eine Metapher für die Unruhe des menschlichen Herzens bei der Suche nach Erkenntnis. Er beschreibt eine Wanderung durch die schattigen Klippen hindurch bis vor den Eingang einer großen Höhle, vor welcher der Erzählende „im Gefühl der Unwissenheit“ eine Zeitlang verharrt: „Ich hockte mit gekrümmtem Rücken, die müde Hand aufs Knie gestützt, beschattete ich mit der Rechten die gesenkten und geschlossenen Wimpern: – und n u n –, da ich mich mehrmals hin und her beugte, um in die Höhle hineinzublicken, verbot mir das die große Dunkelheit, die darin herrschte. Als ich aber eine Zeitlang verharrt hatte, erwachten in mir zwei Gefühle: Furcht und Verlangen – Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber, mit eigenen Augen zu sehen, was an Wunderbarem darin sein möchte“.
Diesem „n u n“ ist meine Komposition gewidmet: Sie – ähnlich wie auf andere Weise mein Klavierkonzert Ausklang – ist sozusagen „meine“ Alpensymphonie. Anders als bei Strauss allerdings beschwört sie Energien und Eruptionen in einer Klanglandschaft weitab von jeglicher musiksprachlichen Geborgenheit. Während im Strauss'schen Meisterwerk der Wanderer aus stimmungsvollem b-moll-Morgennebel aufbricht – allerdings erst den in A-Dur strahlenden Sonnenaufgang abwartet ... – und in fröhlichem Es-Dur losstürmend auf tonal gesicherten Wegen zum majestätischen C-dur-Gipfel glücklich hinaufgelangt – den er allerdings bei hereinbrechendem Unwetter eilends verlässt, um ins schützende Tal hinabzuflüchten –, verharrt der Wanderer Leonardos in NUN in unwirtlicher Höhe vor jener Furcht und Verlangen erregenden Höhle. Meine Musik, sozusagen als brodelnder Krater beginnend, verwandelt sich in eine Sequenz von Rufen, deren Widerhall die „drohende“ Finsternis zu durchdringen und auszuloten versucht, und sie mündet – auf dem Umweg über eine Art „Tanz auf dem Vulkan“ der beiden Solo-Instrumente – in eine instrumental paraphrasierte Sprech-Landschaft, als ob das Zischen und Fauchen, nichts weiter wiedergäbe als die erweiterten Konsonanten eines gesprochenen imaginären Textes. Dieser schließlich – als Botschaft des im Ungeborgenen nach Erkenntnis Suchenden – konkretisiert sich zu jenem abgründigen Satz des japanischen Philosophen und Gründers der „Kyoto-Schule“, Kitaro Nishida: „Das Ich ist kein Ding, sondern ein Ort“.
Die Beziehung meines Werks zur Strauss'schen Alpensymphonie – der Komponist wollte sie ursprünglich nennen „der Antichrist“ – ist in ihrer antipodischen Gegensätzlichkeit evident. Es ist eine machtvolle, letztlich aber gütige, dem Menschen zugewandte, idyllische Natur, die bei Strauss beschworen wird, und den nächtlich in die häusliche Behaglichkeit Heimkehrenden erfüllt Ehrfurcht und Dankbarkeit: es ist ein „gläubiger Antichrist“, und die Pastorale Beethovens lässt grüßen. Wie alles von Strauss war es ein – s e i n – letzter (oder vorletzter ...) Blick auf ein zerfallendes Paradies (1915 geschrieben ...). Heute ist vielleicht jedes Werk, welches sich den innovativen Anspruch von musikalischer Tradition zu Eigen gemacht hat und im 21. Jahrhundert den Musikbegriff jenseits tonaler Sprachvertrautheit in ungesichertem Klang-Terrain neu zu bestimmen sucht – eine Art Bergbesteigung in weglosem Gelände, und wenn schon nicht eine „Alpensymphonie“, so doch eine Gratwanderung: abenteuerlich – verlockend – nicht ungefährlich: „non hay caminos ...“.
Helmut Lachenmann (Februar 2003)
CDs:
Gaby Pas-Van Riet (Flöte), Michael Svoboda (Posaune), Neue Vocalsolisten Stuttgart, WDR Sinfonieorchester Köln, Ltg. Jonathan Nott
CD KAIROS 0012142KAI
Dietmar Wiesner (Flöte), Uwe Dierksen (Posaune), SCHOLA Heidelberg, Ensemble Modern Orchestra, Ltg. Markus Stenz
EMCD-004
Bibliografie:
Hidalgo, Manuel: Mozart in Lachenmann, in: auf (-) und zuhören. 14 essayistische Reflexionen über die Musik und die Person Helmut Lachenmanns, hrsg. von Hans-Peter Jahn, Hofheim: Wolke 2005, S. 35-46.
Hiekel, Jörn Peter: Interkulturalität als existentielle Erfahrung. Asiatische Perspektiven in Helmut Lachenmanns Ästhetik, in: Nachgedachte Musik. Studien zum Werk von Helmut Lachenmann, hrsg. von Jörn Peter Hiekel und Siegfried Mauser, Saarbrücken: Pfau 2005, S. 62-84.
ders.: Helmut Lachenmann und seine Zeit, Laaber: Laaber 2023, S. 382-402.
Kaltenecker, Martin: Was nun? Die Musik Helmut Lachenmanns als Beispiel, in: Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann, hrsg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz: Schott 2006, S. 113-128.
Maier, Birgit; Britz, Vanessa; Arnold, Miriam: Helmut Lachenmann: NUN, in: Flöte aktuell (2003), Heft 4, S. 20-24.
Pas-Van Riet, Gaby: On NUN, in: Helmut Lachenmann Inward Beauty, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 23 (2004), Heft 3/4, S. 165f.
Svoboda, Mike: NUN An Inside View, in: Helmut Lachenmann Inward Beauty, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 23 (2004), Heft 3/4, S. 161-164.
Wellmer, Albrecht: Helmut Lachenmann: Die Befreiung des Klangs in der konstruktivistischen Tradition der europäischen Moderne, in: ders., Versuch über Musik und Sprache, München: Hanser 2009, S. 270-299.
Utz, Christian: Paradoxien musikalischer Temporalität. Die Konstruktion von Klanggegenwart im Spätwerk Bernd Alois Zimmermanns im Kontext der Präsenzästhetik bei Giacinto Scelsi, György Ligeti, Morton Feldman und Helmut Lachenmann, in: Die Musikforschung 68 (2015), S. 22-52.