Helmut Lachenmann (*1935) Trio fluido
[Klar,Va,Schl] 1966 Dauer: 16'
Uraufführung: München, 5. März 1968
24 Seiten | 27 x 36 cm | 164 g | ISMN: 979-0-004-18888-0 | geheftet
Das Stück stellt für mich einen von verschiedenen Versuchen dar, aus einem streng punktuellen Musikdenken herauszufinden, mit dem ich mich seit meinem Studium bei Luigi Nono identifiziert hatte und dem ich auf meine eigene Weise treu zu bleiben entschlossen war, besonders in jener Zeit, als sich die sogenannte Avantgarde mehr und mehr auf surrealistische Kompromisse mit der bürgerlichen Bequemlichkeit einzulassen schien.
Die Besetzung - Klarinette, Bratsche und Schlagzeug (Marimbaphon mit Almglocken, Becken, Pauke und Bongos) – gewährleistete eine homogene Ausgangsbasis der instrumentalen Mittel, von wo aus einerseits eine Art Klang-Gestik – das heißt enger oder weiter verzweigte Tonfigurationen – sich entwickeln ließ, während andererseits die Klangdifferenzierung nach innen weiter getrieben werden konnte bis hinein in die bewusstgemachte Anatomie des entstehenden (geblasenen, geschlagenen, geriebenen, gestrichenen, gezupften, getupften usw.) Tones. Zwischen diesen beiden Gegensätzen – Verflüssigung des punktuell Gedachten hier und seiner Versteinerung beziehungsweise inneren Aufbrechung, Öffnung dort – bewegt sich diese Musik: Gegensätze, die ich in späteren Werken bis in radikale Extreme weitergetrieben habe, während hier das Ganze noch einem eher abstrakt-spielerischen Gesamtcharakter verpflichtet bleibt.
(Helmut Lachenmann, 1989)
Trio fluido, noch vor dem Schlagzeugsolostück Intérieur I, meinem „Opus 1“, entstanden, gehört einer Schaffensphase an, die noch streng strukturalistisch geprägt war, in der also ausschließlich am akustischen Material orientierte Beziehungen und Entwicklungen kompositorisch gesteuert wurden. Was immer in diesem Stück an Spielerischem einerseits, an Verfremdung und Klangzersetzung andererseits zu finden ist, „ergab“ sich aus der Anwendung von solchen immanent orientierten Gesetzmäßigkeiten, war also nirgends Gegenstand von expressiver Spekulation.
Formal hat man es mit einer vielfach gebrochenen, aber insgesamt zugleich steigenden und fallenden Kurve zu tun: Auf dem Hintergrund scheinbar lose aufgereihter Abschnitte kehren sich mehr und mehr extreme Materialeigenschaften hervor, schließen sich zusammen, bewirken insgesamt eine Zuspitzung, die umschlägt in den Kontrast eines statischen, durch innere Fluktuationen belebten Feldes. Dieses zerfasert sich seinerseits bis zum Schluß, wobei hinter den Tonfiguren die Geräuschkomponenten, hinter diesen die Erfahrung von der körperlichen Beschaffenheit des klingenden Stoffes und dahinter die auf solche Weise entleerte Zeit freigelegt, bewußtgemacht und in den musikalischen Zusammenhang eingegliedert wird.
„Strukturelles Musizieren“: Das ist eine paradoxe Vorstellung. In Trio fluido entdeckt und nutzt die Musik selbst diesen Widerspruch. Mit der zunehmenden Auflösung (und zugleich der instrumentaltechnischen Ausuferung im Schlagzeug) schälen sich jene andere Materialwahrnehmung und daran gebundene Expressivität heraus, die in meinen späteren Werken, zuerst in temA, Air und Klangschatten Ausgangshaltung bedeuteten, um die Reflexion der Bedingungen des Hörens und Musizierens ins Hören selbst mit einzubeziehen.
(Helmut Lachenmann, 1993)
CD:
Uwe Möckel, Barbara Maurer, Christian Dierstein
CD Montaigne Auvidis MO 782023
Bibliografie:
Brunner, Eduard: krawall im saal. Eduard Brunner über seine Erfahrungen mit der Musik von Helmut Lachenmann und die Zusammenarbeit mit dem Komponisten, in: Neue Zeitschrift für Musik 167 (2006), Heft 1, S. 32f.
Hiekel, Jörn Peter: Helmut Lachenmann und seine Zeit, Laaber: Laaber 2023, S. 124-135.