Helmut Lachenmann (*1935) Schwankungen am Rand
Musik für Blech und Saiten [Orch] 1974/75 Dauer: 33'
0.0.0.0 – 0.4.4.0 – 4Donnerbleche – 2E-Git – 2Klav – Str.: 4Saal-Vl.2Saal-Va – 20.0.8.0.0 – 6Regler
Uraufführung: Donaueschingen (Donaueschinger Musiktage), 17. Oktober 1975
Zur DVD mit Lachenmann-Interview, Teilproben und Aufführung
Vier Trompeten, vier Posaunen, vier Donnerbleche, zwei Flügel, zwei elektrische Gitarren und 34 hohe Streicher (Violinen und Bratschen) sind am Saalrand um das Publikum plaziert. Die realen und räumlichen Klangwirkungen werden durch Mikrophone über Verstärker und Lautsprecher immer wieder verändert und anders verlagert. Im Stück entfalten sich verschiedene Gegensätze, die teils schon im Ausgangsmaterial angelegt sind, teils sich aus dem Verlauf ergeben. Zu den ersteren gehören die „schwankende“ Bedeutung des Klangs als konkretes Produkt seiner mechanischen Entstehung einerseits und als wohlbekanntes Signal, als Teil eines geläufigen spieltechnischen Repertoires andererseits, aber auch die Bedingungen des realen Raums: Sie werden durch die elektrische Verstärkung überwunden und blockiert, geraten gewissermaßen „ins Schwanken“. Zu den letzteren gehört die schwankende Funktion des Rhythmischen, hier als starres Zeitgerüst, dort als unberechenbares, nur mittelbar gesteuertes Produkt der Unschärfen und des charakteristischen Innenlebens von instrumentalen Vorgängen. Direkt greifbar wird dieses Prinzip der „Schwankung“ zum einen am konkreten, nur relativ steuerbaren Material der Donnerbleche, zum anderen am Medium von Steuerung selbst: an der blinden Apparatur der elektrischen Verstärkung.
Das Stück ist ein Versuch, das Hören zwischen verschiedenen möglichen Kategorien in der Schwebe zu halten, quasi pendeln zu lassen, und zwar auf dem Weg über präzise, ad hoc formulierte Strukturen. Dass diese daraufhin angelegt sind, sich aufzuheben, von sich wegzuweisen auf die Landschaft der Unschärfen und der ausgelösten Zwischenwerte, wie sie sich auf der „Rückseite“ des geschaffenen Musters ergeben: Dies wird spätestens überall dort deutlich, wo die Musik in Fermaten, versteinerten Ostinato-Wendungen oder im „Laissez-vibrer“ von geknautschtem Packpapier erstarrt.
(Helmut Lachenmann)
CDs/DVDs:
SWF-Sinfonieorchester Baden-Baden, Ltg. Ernest Bour
CD col legno WWE 31899 (75 Jahre Donaueschinger Musiktage) und WWE 20511
Ensemble Modern, Ltg. Peter Eötvös
CD ECM 1789
Ensemble Modern Orchestra, Ltg. Brad Lubman
Excerpts on DVD „Lachenmann-Perspektiven 3“ (Breitkopf & Härtel, BHM 7813)
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Ltg. Emilio Pomàrico
DVD „Lachenmann-Perspektiven 3“ (Breitkopf & Härtel, BHM 7813)
Bibliografie:
Nonnenmann, Rainer: Music with Images – The Development of Helmut Lachenmann's Sound Composition Between Concretion and Transcendence, in: Helmut Lachenmann – Music with matches, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 24 (2005), Vol. 1, S. 1-29.
ders.: Temporale Gebäude. Komponisten als Architekten orchestraler Klang- und Hörräume, in: Neue Zeitschrift für Musik 172 (2011), Heft 5, S. 28-33.
Oehlschlägel, Reinhard: Widersetzungen. Helmut Lachenmanns „Schwankungen am Rand“, in: MusikTexte 67/68 (1997), S. 93-94.
Toop, Richard: Concept and Context: A Historiographic Consideration of Lachenmann's Orchestral Works, in: Helmut Lachenmann – Inward Beauty, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 23 (2004), Heft 3/4, S. 125-144.