Helmut Lachenmann (*1935) Salut für Caudwell
Musik für zwei Gitarristen – revidierte Neuausgabe 2020 herausgegeben von Seth Josel [2Git] 1977/2020 Dauer: 26'
Uraufführung: Baden-Baden, 3. Dezember 1977
66 Seiten | 42 x 29,7 cm | 484 g | ISMN: 979-0-004-18859-0 | Mappe
Die typische Aura, wie sie an die Gitarre als Volks- und Kunstinstrument gebunden ist, schließt Primitives ebenso ein wie höchst Sensibles, Intimes und Kollektives, enthält auch Momente, die historisch, geographisch und soziologisch genau beschreibbar sind. Für einen Komponisten geht es nun nicht darum, sich dieses vorweg schon gegebenen Ausdruckspotentials schlau zu bedienen oder gar sich seiner verzweifelt zu erwehren, sondern die vorhin genannten Elemente als Teile der gewählten musikalischen Mittel zu durchdringen und sich gleichzeitig von ihnen durchdringen zu lassen.
In diesem Sinn bin ich von charakteristischen Spielformen der Gitarre ausgegangen, habe sie in ihren grifftechnischen Details vereinfacht, zugleich aber auch umgeformt und neu entwickelt – oft über die Grenzen hinaus, die eine an jener Aura orientierte Praxis bisher gezogen hatte.
Beim Komponieren, oder genauer: beim Entwerfen und Präzisieren der Klang- und Bewegungszusammenhänge, hatte ich stets das Gefühl, daß diese Musik irgend etwas „begleite“, wenn nicht einen Text, so doch einzelne Wörter oder Gedanken; Dinge jedenfalls, die es zu bedenken gelte, die sich aber nicht aussprechen lassen, weil wir in einer weithin sprachlosen Gesellschaft leben, die durch Raubbau der Medien und durch rücksichtslose Manipulation der Emotionen ihr differenziertestes Verständigungsmittel untauglich gemacht hat.
Angedeutet wird dies durch die Einbeziehung gesprochener Worte in Anlehnung an einen Text aus dem Buch „Illusion und Wirklichkeit“ des englischen marxistischen Dichters und Schriftstellers Christopher Caudwell, der vor genau vier Jahrzehnten als Dreißigjähriger in Spanien gefallen ist auf der Seite derer, die das Franco-Regime aufzuhalten versuchten.
Caudwells Forderung im ästhetischen Bereich galt einer Kunst, die ihre Bedingungen kennt und ausdrückt im Namen einer Freiheit, welche den Menschen ermutigt, statt den Kopf in den Sand zu stecken oder in private Idyllen zu flüchten, sich mit der Wirklichkeit und ihren vielschichtigen Widersprüchen realistisch auseinanderzusetzen. Caudwells Denken – von seinen eigenen politischen Gesinnungsgenossen bis heute geflissentlich übergangen – bedeutet auch eine Absage an jene, welche einen derart politisierten Kunst- und Freiheitsbegriff erneut verkommen lassen, indem sie ihn in das Prokrustesbett von ideologischen Doktrinen zwängen, die sich inzwischen weithin als Vorwand für neue Formen von Unterdrückung entlarvt haben. Ihm und allen Außenseitern, die, weil sie die Gedankenlosigkeit stören, schnell in einen Topf mit Zerstörern geworfen werden, ist das Stück gewidmet.
(Helmut Lachenmann, 1977)
CDs/LP:
Christopher Brandt, Robin Hoffmann
CD Cadenza 800 875
Wilhelm Bruck, Theodor Ross
CD col legno 0647 277
Norio Sato, Kei Koh
CD ALM-Records ALCD 53
Christopher Brandt, Robin Hoffmann
CD Foxfire, Cadenza 800875, Vertrieb: Note 1
Christopher Brandt, Robin Hoffmann
Wilhelm Bruck, Theodor Ross
LP col legno 5504
Barbara Romen, Gunter Schneider (Gitarre)
CD DURIAN 018-2
Mats Scheidegger und Stephan Schmidt (Gitarre)
CD Musiques Suisses MGB CTS-M 90
Wilhelm Bruck und Theodor Ross (Gitarre)
CD KAIROS 0012652KAI
Bibliografie:
Downs, Benjamin: Late Serialism in Early Lachenmann, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung, Nr. 30 (April 2017), S. 25-31.
Dyer, Mark: Helmut Lachenmann’s „Salut für Caudwell“: An Analysis, in: Tempo 70 (2016), Heft 277, S. 34-46.
Hiekel, Jörn Peter: Helmut Lachenmann und seine Zeit, Laaber: Laaber 2023, S. 213-222.
Josel, Seth: „Form can wait“. Zur Form von Lachenmanns “Salut für Caudwell”, in: Musik & Ästhetik, Heft 85 (Januar 2018), S. 27-44.
„quasi Flamenco da lontano“ … Helmut Lachenmann im Gespräch über „Salut für Caudwell“ (mit Seth Josel), in: MusikTexte Heft 161 (Mai 2019), S. 43-48
Lück, Hartmut: Philosophie und Literatur im Werk von Helmut Lachenmann, in: Der Atem des Wanderers. Der Komponist Helmut Lachenmann, hrsg. von Hans-Klaus Jungheinrich, Mainz: Schott 2006, S. 41-55.
Schick, Tobias Eduard: Weltbezüge in der Musik Mathias Spahlingers (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band 80), Stuttgart; Franz Steiner 2018, dort S. 105-109.
Schneider, Gunter: Die Gitarre in der Neuen Musik. Streifzüge und Momentaufnahmen, in: spuren, Zeitung des Festivals „Klangspuren“ Schwaz, 2. Ausgabe September 2005, S. 4f.
Tsangaris, Manos: Instrumentale Plastik. Manos Tsangaris im Gespräch mit Hans-Peter Jahn über Helmut Lachenmanns „Salut für Caudwell“, in: MusikTexte, Heft 177/178, Mai 2023, S. 67-74
Die Notwendigkeit für eine Neuedition hat sich aus dem intensiven Studium des Quellenmaterials des Stücks ergeben. Dieses umfasst konventionelle schriftliche Quellen – Notizbücher, Skizzen, Entwürfen, die Reinschrift und die Korrekturfahnen des Verlegers – wie auch mündliche und die Geschichte der Aufführungspraxis: Gespräche mit Lachenmann, Diskussionen mit Wilhelm Bruck und Theodor Ross, den Solisten der Uraufführung, und die Materialien, die dieses Duo bei seinen Auftritten verwendet hat. Zu den wichtigsten Änderungen und Merkmale der Neuausgabe zählen:
- Die Wiederherstellung des 5-Linien-Systems für die rechte Hand, die Lachenmann ursprünglich verwendet hat.
- Die Wiederherstellung des Textes in der Fassung, die Lachenmann ursprünglich geschrieben hatte, einschließlich seiner auffälligen Verwendung von Großbuchstaben für Plosive und Konsonanten, was äußerst suggestiv und expressiv ist.
- Eine ergänzende „Studie“, verfasst vom Herausgeber, die aus der rhythmischen Struktur der gesprochenen Teile besteht, zusammen mit der zuvor eingefügten IPA-Notation. Sie dient nicht nur als Studienhilfe, sondern erleichtert Interpreten ohne Deutschkenntnisse die Umsetzung.
(Seth Josel, aus dem Vorwort)