Helmut Lachenmann (*1935) Les Consolations
[Soli,Orch] 1967-68/1977-78 Dauer: 38'
Soli: 4S4A4T4B – 4Picc.3.3.B-Klar.3.Kfg. – 4.3.3.1. – Pk.Schl(6) – 2Hfe – 2Klav – Str: 10.10.8.6.4.
Uraufführung: Darmstadt, 10. August 1978
Zur DVD mit Lachenmann-Interview, Teilproben und Aufführung
1967 und 1968 komponierte ich Consolation I nach einem Text aus „Masse Mensch“ von Ernst Toller und Consolation II nach dem „Wessobrunner Gebet“. Beide Texte, als Formen von „Tröstung“ angesichts von Ratlosigkeit und Daseinsangst aufgefaßt, sind auf entgegengesetzte Weise kontemplativ: „… das bist Du, der heute an der Mauer steht, erkenn Dich doch“ – „… als nirgends nichts war an Enden und Wenden, da war der eine allmächtige Gott“. Mir scheint heute, daß – via Franz Liszt – die unverhüllte Trostlosigkeit beider Texte mich damals auf den Titel gebracht hat. „De-Consolation“, wenn es das gibt, ist der Grundgedanke.
Die Geschichte vom Mädchen mit den Schwefelhölzern (Textgrundlage für das Präludium, Interludium und Postludium), welches, von der Gesellschaft ignoriert, die ihm zum Verkauf belassenen Hölzchen selber entzündet und vor dem Erfrieren so wenigstens die Großmutter zu schauen bekommt und sich von ihr „empor“-tragen läßt, ist nun zum Rahmen des Ganzen geworden: eine Erzählung vom Handeln, ohne aufgeblasene Einsicht in die – wie auch immer doktrinär verkürzte – „geschichtliche Notwendigkeit“, sondern gemäß innerer Notwendigkeit unter dem Druck der Wirklichkeit von Gesellschaft und Natur.
Die sprachliche Verständlichkeit der beiden früheren Texte war auf typische exklamatorische Gesten oder charakteristische phonetische Chiffren reduziert, also mehr oder weniger aufgegeben worden. Emphatische Wortgestaltung a priori und sprachkonforme lineare Verläufe widersprachen meinen Vorstellungen von Struktur und Material. Die Verständlichkeit der Andersen-Erzählung mußte nicht nur bewahrt, sondern im Zusammenhang mit den vorhandenen kompositorischen Mitteln neu gewonnen und plausibel gemacht werden. Obwohl sich meine Sicht des musikalischen Materials gewandelt und von dessen akustischen Beziehungsmöglichkeiten weg sich mehr und mehr dessen gesellschaftlich bedingten expressiven Widersprüchen zugewandt hat, ist der strukturelle Ansatz im Sinn der „alten“ seriell-atonalen Utopien in meiner Musik maßgebend geblieben. So ergibt sich im Moment des Erzählerischen genau so ein Widerspruch wie zuvor in der zur expressiven Struktur gewandelten Unverständlichkeit der beiden älteren Stücke. Aus der Auseinandersetzung mit der Unmöglichkeit und Notwendigkeit musikalisch-struktureller und sprachlicher Mitteilung im selben Zusammenhang haben sich die Arbeitsprozesse bei dieser Komposition ergeben.
Entstanden ist so etwas wie eine Symphonische Dichtung in fünf Teilen (Präludium – Consolation I – Interludium – Consolation II – Postludium): eine andere Art von „Heldenleben“ mit „schlechter“ Apotheose.
(Helmut Lachenmann, 1978)
CD/DVD:
Schola Heidelberg, WDR Sinfonieorchester Köln, Ltg. Johannes Kalitzke
CD KAIROS 0012652KAI
SWR Vokalensemble, Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Ltg. Peter Rundel
DVD „Lachenmann-Perspektiven 4“ (Breitkopf & Härtel, BHM 7814)
Bibliografie:
Febel, Reinhard: Zu Ein Kinderspiel und Les Consolations von Helmut Lachenmann, in: Reinhard Febel, Alles ständig in Bewegung. Texte zur Musik 1976-2003, hrsg. von Rainer Nonnenmann (= Quellentexte zur Musik des 20./21. Jahrhunderts 11.1), Saarbrücken: Pfau 2004, S. 130-167.
1. Präludium |
2. Consolation I |
3. Interludium |
4. Consolation II |
5. Postludium |