Helmut Lachenmann (*1935) Fassade
[Orch] 1973 Dauer: 20'
4(Picc).4.3.B-Klar.3.Kfg – 6.4.4.1. – Pk.Schl(6) – 8 ad hoc-Spieler – Hfe.2Git – 2Klav.Org – Str – Tb
Uraufführung: Bonn, 22. September 1973
Es mag irreführend wirken und dennoch: Fassade ist ein heimlicher Marsch. Aus dieser Vorstellung haben sich die Gesten dieses Stücks ergeben, und in diesem Sinn liegt ihm ein rhythmisches Gerüst zugrunde, dessen einzelne Glieder mit Klangfeldern von unterschiedlicher innerer Artikulation bestückt sind. Der deutlich metrisch orientierte "marschmäßige" Duktus bricht allerdings immer wieder zusammen, denn jene Klangfelder, welche sich zur "Marschmelodie" zu fügen hätten, wuchern aus und kehren ihr strukturelles Innenleben hervor; sie setzen so dem dynamischen Rahmengestus ihre eigene innere Statik entgegen, sie blockieren und deformieren ihn. Formal gesehen entspräche ihre Rolle derjenigen des "Trios", expressiv aber durchsetzen sie den ganzen Verlauf.
Der äußere Gestus von Geradlinigkeit, einheitlichem rhythmisch "zusammengeschweißtem Willen", die Fassade von kollektivem Kraftbewußtsein und auf der durchscheinenden Rückseite strukturelle Komplexität, expressive Zerbrechlichkeit - im hier erzwungenen Zusammenhang Ausdruck gleicherweise von Gewalt, Schwäche, Angst: Solche Thematik ist nicht neu, und die Gedankenbrücke über Alban Bergs Marsch aus Opus 6 zu Mahlers Sechster Symphonie scheint naheliegend. Wo aber Mahlers "Held" sich im Kampf mit den feindlichen Mächten aufbäumt, auftrumpft und gefällt wird, vermittelt das bürgerliche Subjekt bei Berg seine eigene Zersetzung, in Fassade existiert es allenfalls als Zerbrochenes, zum Triumph ebenso unfähig wie zur Klage. Da es sich selbst als Fiktion in einer sich wandelnden gesellschaftlichen Konstellation und darüber hinaus - mit Wozzeck zu sprechen - als "Abgrund" erfahren hat, läßt es den Strukturgesetzen der entleerten Mittel freien Lauf und hofft so die Struktur jenes Abgrunds zu ertasten.
Keine Affekt-Musik also, vielmehr teilt sich Ausdruck mit als "Aspekt", als kompositorische Haltung, als sprachloses Handeln in einer auf fatale Weise vorschnell sprachfertigen Situation gedankenloser Affekt-Behaglichkeit, wie sie in unserer Kulturlandschaft zum guten Ton gehört. Eine Musik als Trümmerfeld und Kraftfeld in einem: Ihr Vorbild heißt natürlich Schönberg. In diesem Sinn gehört Fassade zu meinen Versuchen, musikalischen Ausdruck nicht einfach aus dem überlieferten Affekten-Repertoire abzurufen, aber auch nicht bequem oder geschickt seitab der vorhandenen musiksprachlichen Mittel anzusiedeln, sondern ihn in der Auseinandersetzung mit diesen Mitteln selbst zu entwickeln.
(Helmut Lachenmann, 1973)
CD:
SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Michael Gielen
CD KAIROS 0012232KAI
Bibliografie:
Hiekel, Jörn Peter: Helmut Lachenmann und seine Zeit, Laaber: Laaber 2023, S. 252-256.