Helmut Lachenmann (*1935) Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Musik mit Bildern 1990-96 Text: Hans Christian Andersen, Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci
Soli: SS – 4S4A4T4B – Shô – 4(4Picc.2A-Fl.Blfl).4.4(2B-Klar).4(3Kfg) – 8.4.4.2 – 2Pk.Schl(5).2Vibr.2Xylorimba – 2Klav.Cel.E-Org(Synth) – 2E-Git.2Hfe – Str.: Solo-Oktett – 10.10.8.6.4 – Tb – 6 Regler
Uraufführung: Hamburg, 26. Januar 1997
AD: abendfüllend
Libretto: Helmut Lachenmann nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen und Texten von Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin
Ort und Zeit: In einer kalten Winternacht am Silvesterabend auf der Straße
Achim Freyer, der Regisseur der Uraufführung, fragte mich: „Soll denn das Publikum mit diesem Werk ergriffen werden?“ Meine Antwort damals war ganz spontan: „Was denn sonst! Gibts überhaupt ein Kunstwerk, welches nicht ergreifen möchte - wenn nicht das Publikum, so doch den Einzelnen -, und von dem der Erlebende nicht ergriffen werden will? Und darüber hinaus: nur als seinerseits Ergriffener sollte ein Komponist, Maler, Dichter sich ans Werk machen.“ Zugleich merkte ich, dass diese Antwort unbefriedigend war. Sie ließ die Provokation außer Betracht, mit der meine Musik, in der Tradition Schönberg-Webern-Nono stehend, ein wie auch immer aufgeschlossenes Publikum - gewiß nicht als einzige - oft ebenso irritiert wie ergriffen hatte. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern, dessen Geschichte so ergreifend ist, wollte niemanden ergreifen. Es war selbst ergriffen, von Kälte, Angst, perspektivelosem Heimweh, Verlassenheit - und es hat die Streichhölzer ergriffen, sie an der kalten Mauer gerieben, einsam gehandelt, das Verbot übertreten, die Ware verschwendet - gezündelt, auf der Suche nach Wärme. Und mitten in der rührend-festlichen Weihnachts- und Jahreswechsel-Euphorie (oder noch suspekter: Besinnlichkeit) erlebt es im Blick auf die flackerig erleuchtete Hausmauer „alles, was das Herz begehrt“: ein Glück, welches alle seine standardisierten Reduktionen für den Alltags-Gebrauch zugleich einlöst und sprengt, gar transzendiert: statt Besinnlichkeit radikale Sinnlichkeit, „wahnsinnig - kriminell - selbstmörderisch“ - um den eingearbeiteten Brief von Gudrun Ensslin zu zitieren - in einer Umgebung, die erstmal wieder lernen müßte, die Sinne menschlich zu gebrauchen.
(Helmut Lachenmann)
CDs:
Elizabeth Keusch, Sarah Leonard (Sopran), Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi (Klavier), Mayumi Miyata (Sho), Salome Kammer (Sprecher), Staatsopernchor und Staatsorchester Stuttgart, Ltg. Lothar Zagrosek
CD KAIROS 0012282KAI
Eiko Morikawa und Nicole Tibbels (Sopran), Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi (Klavier), Mayumi Miyata (Sho), Helmut Lachenmann (Sprecher), SWR Vokalensemble Stuttgart, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling
CD ECM New Series 1858/59
Bibliografie:
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ders.: Hellwach mit allen Sinnen. Über den deutschen Komponisten Helmut Lachenmann und seine Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, in: Programmbuch Ballett Zürich, Spielzeit 2019/20, S. 21-26.
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dies.: Die doppelte ästhetische Differenz und noch einmal die Frage: Was heißt Musik mit Bildern? Zu Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern, in: Helmut Lachenmann: Musik mit Bildern? Hrsg. von Matteo Nanni und Matthias Schmidt (= eikones, hrsg. von Nationalen Forschungsschwerpunkt Bildkritik an der Universität Basel), München: Wilhelm Fink 2012, S. 170-192.