Helmut Lachenmann (*1935) Allegro sostenuto
[Klar(B-Klar),Vc,Klav] 1986/88 Dauer: 32'
Uraufführung: Köln, 3. Dezember 1989
52 Seiten | 27 x 36 cm | 293 g | ISMN: 979-0-004-50179-5 | geheftet
Die Uraufführung von Helmut Lachenmanns „Allegro sostenuto“ im Dezember 1989 in der Kölner Philharmonie kann heute im Rückblick als eine Art Wiedergeburt der Kammermusik im ausgehenden 20. Jahrhundert bezeichnet werden. In unzähligen Konzerten und mindestens 4 CD-Einspielungen hat Lachenmanns groß angelegtes Klarinettentrio seither den Beweis angetreten, dass „es eine Klarheit der Zeichnung gibt mit einer klanglichen Nuancierungskunst, für die ich außer Debussy keinen Vergleich wüsste“ (Jürg Stenzl). Die neue Spielpartitur wird den Zugang zu diesem Werk deutlich erleichtern.
Ähnlich wie im zuvor entstandenen Ausklang für Klavier mit Orchester bestimmt sich auch hier das musikalische Material aus der Vermittlung zwischen der Erfahrung von „Resonanz“ (Tenuto-Varianten zwischen Secco-Klang und natürlichem oder künstlichem Laisser-vibrer) einerseits und von „Bewegung“ andererseits. Beide Aspekte des Klingenden begegnen sich in der Vorstellung von Struktur als einem vielfach ambivalenten „Arpeggio“, das heißt als sukzessiv erfahrenem Aufbau-, Abbau-, Umbau-Prozeß, der sich ebenso auf engstem Zeitraum, als figurativer Gestus, wie als Projektion über größere Flächen hinweg mitteilt.
Form und Ausdruck ergeben sich im Zusammenwirken von sechs sukzessiv angeordneten Zonen:
1) einer breiten Eröffnungssequenz, die den Klangraum weiträumig nach unten durchmißt, Legato-Kantilene aus einfachen – natürlichen und künstlichen, direkten und indirekten, quasi „falschen“ – Hallverlängerungen beziehungsweise Resonanzfeldern, deren letztes bis zum Stillstand auskadenziert („Stillstand“: typischer Begriff, in dem sich Resonanz und Bewegung in ihren Extremen berühren),
2) einem vielfach untergliederten Spiel der abgestuften Austrocknungen zwischen Secchissimo und totaler Pedalisierung,
3) dem eigentlichen Allegro-Teil, in welchem Hall als Bewegung in dichter Geschwindigkeit – beziehungsweise umgekehrt – geronnen erscheint,
4) unterbrochen und umgelenkt durch eine Art „entleerte Hymne“, Rezitativ aus Rufen in verschieden resonierende, darunter auch „schall-tote“ Räume,
5) zur Bewegung zurückfindend, dabei eskalierend und so sich festfressend in Grenzbereichen des gewaltsam perforierten Instrumentalklangs,
6) gleichsam ausfedernd durch eine Schlußkadenz aus Mixturen, in deren Innenleben Hall und Bewegung erneut ineinander aufgehen.
(Helmut Lachenmann, 1989)
CDs:
Alain Damiens, Pierre Strauch, Pierre-Laurent Aimard
CD Accord 202082
Eduard Brunner, Walter Grimmer, Massimiliano Damerini
CD col legno WWE 31863
David Smeyers, Michael Bach, Bernhard Wambach
CD cpo 999 102-2
Shizuyo Oka, Lucas Fels, Yukiko Sugawara
CD KAIROS 0012212KAI
ensemble phorminx
CD WER 6682 2
Bibliografie:
Griffiths, Paul: Modern Music and After, 3rd edition, Oxford University Press 2010, S. 283f.
Lachenmann, Helmut: Komponieren: Ein Instrument bauen, zum Beispiel „Allegro Sostenuto“, in: Komposition und Musikwissenschaft im Dialog I (1997/1998), hrsg. von Inka Misch und Christoph von Blumröder (= Signale aus Köln. Beiträge zur Musik der Zeit, Band 3), Saarbrücken: Pfau 2000, S. 114-142.
Lang, Benjamin: Im Wirbel der Zeiten. Gérard Griseys Widmung an Helmut Lachenmann in „Vortex Temporum“, in: Lost in Contemporary Music. Neue Musik analysieren, hrsg. von Benjamin Lang, Regensburg: ConBrio 2017, S. 145-171.
Mauser, Siegfried: Coincidentia oppositorum? Zu Helmut Lachenmanns Allegro sostenuto, in: Nachgedachte Musik. Studien zum Werk von Helmut Lachenmann, hrsg. von Jörn Peter Hiekel und Siegfried Mauser, Saarbrücken: Pfau 2005, S. 137-144.
Mosch, Ulrich: Das Unberührte berühren Anmerkungen zur Interpretation von Helmut Lachenmanns Werken Pression und Allegro sostenuto, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 46), Mainz u. a.: Schott 2006, S. 25-46.
ders.: : bis ins kleinste detail. Zu einer Skizze von Helmut Lachenmanns Allegro sostenuto, in: Neue Zeitschrift für Musik 167 (2006), Heft 1, S. 34f.
Neuwirth, Markus: Strukturell vermittelte Magie. Kognitionswissenschaftliche Annäherungen an Helmut Lachenmanns Pression und Allegro sostenuto, in: Musik als Wahrnehmungskunst. Untersuchungen zu Kompositionsmethodik und Hörästhetik bei Helmut Lachenmann, hrsg. von Christian Utz und Clemens Gadenstätter (= musik.theorien der gegenwart 2), Saarbrücken: Pfau 2008, S. 73-100.
Smeyers, David: Allegro Sostenuto, in: The Clarinet, Mai/Juni 1998, S. 26-28.