Christian Mason (*1984) The Singing Tree
[Soli,KiCh,Ens] 2021/22 Dauer: 50' Text: Paul Griffiths
Soli: SMezTBarB – Kinderchor: SA – Ensemble: 2Fl(2Picc).Ob.Ob-d’am.Eh.B-Ob.2B-Klar – 2Hn.Trp.Pos.Tuba – 2Schl – Hfe.E-Git – Klav – 2Vl.2Va.2Vc.Kb und Zusatzinstrumente
Uraufführung: Birmingham/UK, 12. Mai 2023
Auftragswerk der Birmingham Contemporary Music Group
Die Zeit der Bäume, die Zeit der Musik.
Das erste, woran man sich in der Anwesenheit von Bäumen erinnert, ist Dankbarkeit: Für ihre geheimnisvolle Majestät, für die Luft, die wir mit ihnen in jedem Augenblick austauschen, für das Holz, das uns wärmt und uns Unterschlupf gewährt – und aus dem unsere Musikinstrumente hergestellt werden, für den Schatten, der uns vor der Sonne schützt, für die beruhigende Schönheit der Blätter im Wind und im glitzernden Sonnenlicht, für das Ökosystem, das sich auf ihnen und um sie herum bildet, und dafür, dass sie uns eine Zeitskala zeigen, die größer als die unsere ist. Sich in der Anwesenheit von Bäumen oder von nur einem Baum zu befinden, kann Bände zu uns sprechen – wenn wir uns die Mühe machen zuzuhören.
Beim Nachdenken über das Gefühl der menschliche Zeitspannen übersteigenden Zeit, die sie verkörpern, finde ich Analogien zwischen Bäumen und der musikalischen Bedeutung und Prozesse, die in meiner Arbeit zusammenwirken. Besonders gilt dies für The Singing Tree, eine kantatenartige Vertonung eines wunderbar baumartigen Textes von Paul Griffiths für fünf Vokalsolisten, Kinderchor und großes Ensemble (Birmingham Contemporary Music Group).
Das erste, was einem bei dem Text auffällt, ist, dass er wächst. Er wächst aus einem einzigen Samenwort heraus: TREE. Und während er wächst, vervielfältigen sich die Worte in jedem Abschnitt: 1 – 4 – 16 – 64 – 256 – 1024. Für mich suggeriert (oder suggerierte) das eine Vielfalt von Zeitlichkeiten, dergestalt, dass in der Musik einige Worte in eine cantus-firmus-artige Hintergrundstruktur gestreckt werden, während andere wie Herbstblätter in einem Windstoß vorbeifliegen. Wieder andere werden unaufhörlich als Ostinati wiederholt und werden so zu einem Mantra oder einer Beschwörung: A sapling is a sapling / But trees become gods (Ein Setzling ist ein Setzling / Aber Bäume werden zu Göttern).
Das Stück mit seinen sieben Sätzen suggeriert auch insofern eine „Baum-Zeit“, als es Erinnerungen evoziert. Ganz persönliche Erinnerungen, angedeutet in den Widmungen der Sätze – an meine Schwester, an meinen ehemaligen Gitarrenlehrer, an verschiedene Freunde und Kollegen … Und kulturell/musikalisch-historische Erinnerungen, wie zum Beispiel in den „Medieval Memory“-Sätzen, von denen jeder eine unterschiedliche Fassung von Guillaume de Machauts eindringlichem Rondeau „Puis qu’en oubli“ ist.
Mauchaut lebte ca. 1300 – 1337, vor einer nach menschlichem Ermessen langen Zeit, aber ein Blick auf die „Liste der ältesten Bäume“ auf Wikipedia zeigt, dass es viele Bäume gibt, die damals schon als uralt gegolten hätten, sind sie doch vier- oder fünftausend Jahre alt! Der vermutlich älteste Baum in Frankreich – Le Chêne Chapelle (Kapelleneiche) in Allouville-Bellefosse – ist vergleichsweise jung mit seinen 800 Jahren; und dennoch ist er alt genug, dass man sich (ausgefallenerweise) vorstellen könnte, dass Machaut ihn in seiner Jugend aufgesucht haben könnte. Während Machaut ziemlich am Anfang dessen steht, was wir als „Musikgeschichte“ bezeichnen, haben die älteren Bäume schon zu einer Zeit existiert, die jenseits der Reichweite unserer musikalischen oder kulturellen Erinnerungen liegt.
Es ist wie ein Wunder, wenn man daran denkt, dass im Leben eines alten Baumes ganze historische Epochen wie kurze Augenblicke vorüberziehen. Allerdings sind solche Überlebende die Ausnahme in einer Geschichte der Ausbeutung und Zerstörung durch menschliche Interessen. Besonders besorgniserregend auf einem weltweiten Maßstab ist die Entwaldung im Regenwald des Amazonas, aber auch näher an der Heimat sind alte Waldgebiete bedroht von menschlichen Straßenbau-, Schienen und Wohnprojekten: Das Leben von Bäumen wird gewaltsam um einige hundert Jahre verkürzt, nur um einige Minuten im rasenden Leben einiger Menschen einzusparen … Der fragwürdige Ausgleich für solche Projekte, der im Pflanzen neuer Bäume besteht, ignoriert den inhärenten, ungreifbaren und unersetzlichen Wert alten Lebens, der verlorengeht.
for they speak without speech
one to another to another to another
in words that go by way of the ground
in words of such length we cannot keep still to the end of one
in words of such length we have gone before they end
in words of such length they have been here from before us
in words of close breath
in green music
(denn sie sprechen ohne Sprache
einer zum anderen zum anderen zum anderen
in untergründig verbreiteten Worten
in so langen Worten, dass wir nicht bis zu deren Ende stillhalten können
in so langen Worten, dass wir verschwinden, bevor sie enden
in so langen Worten, dass sie schon vor uns hier waren
in Worten geschlossenen Atems
in grüner Musik)
Beim Anschauen der Marsbilder von der NASA Perseverance Mission vermisse ich am meisten die Bäume.
(Christian Mason, April 2023)
1. Enduring Elm (word – phrase) – for Barbara Keal | (Part 1: seed, root, trunk) |
2. Trees become god (statement) – in memoriam Rod Freeman | (Part 1: seed, root, trunk) |
3. The hum of time (theory) – for Farhaad Rahnama | (Part 1: seed, root, trunk) |
4. Medieval Memory (I) – for Kosmo Love | (Part 1: seed, root, trunk) |
5. Nearer to you (story and metamorphoses) – for Stephan Meier | (Part 2: branch, twig, leaf, flower) |
6. Medieval memory (II) / Machaut: Puis qu’en oubli (memory flown) – for Frank Denyer | (Part 2: branch, twig, leaf, flower) |
7. In green music (psalm) – for Frank Reinisch and Helmut Lachenmann | (Part 2: branch, twig, leaf, flower) |