Christian Mason (*1984) An Ocean of Years
[Orch] 2020-2022 Dauer: 21'
2(2Picc).2(Eh).2(B-Klar).2(Kfg) – 4.2.3.1 – Pk.Schl(2) – Hfe – Cel – Str
Uraufführung: Berlin, Konzerthaus, 14. Oktober 2022
Auftragswerk des Konzerthauses Berlin
An Ocean of Years (2020-2022) ist der dritte und letzte Teil meines Orchesterzyklus Time and Eternity mit den beiden vorhergehenden Teilen Eternal Return (2018) und Eternity in an Hour (2019). Das (außermusikalische) Thema dieser Stücke kann durch folgende Fragen erwogen werden, obwohl ich mir keine endgültigen Antworten erwarte:
• (Wie) kann das Hören von Musik unsere Beziehung und Erfahrung zum Vergehen der Zeit verändern?
• (Wie) kann das Hören uns zur Erfahrung von „Nicht-Zeit“-Zuständen befähigen?
• (Wie) können „Zeit“ und „Nicht-Zeit“ koexistieren und miteinander innerhalb eines Hörers oder eines Stückes in Kontakt treten?
Mir scheint, als haben Musikstücke, ähnlich wie Flüsse und Meere, Zeitströmungen, die sie in verschiedenen Geschwindigkeiten durchziehen. Und manchmal, sehr selten, bekommen wir einen inneren Blick auf etwas anderes jenseits dieser Zeitströmungen …
Beim Nachdenken über die Ewigkeit steht eine Sache fest: Sie ist keine Zeitspanne, wie lange diese auch sein möge; sie ist auch kein Zeitmaß, wie rasch oder langsam auch immer es sein möge. Ist die Ewigkeit also etwas „vor“ oder „nach“ der Zeit? Oder ist sie ein vollkommen anderer Zustand, eine andere Schicht des Seins „hinter“ der Zeit?
Ein eher profanes Interesse, das diesen Kompositionen gemeinsam ist, ist die Wiederverwendung von Materialien aus anderen Werken von mir. Eine persönliche Suche nach Verbindungen und Verwandtschaften in meiner eigenen kurzen Zeitspanne. In dieser Hinsicht hat An Ocean of Years sicherlich das breiteste und interessanteste Spektrum an Quellenmaterial. Das wiederkehrende achttönige „Spektralfragment“, das den ersten Satz umrahmt, geht zum Beispiel auf mein älteres Soloviolinstück When Joy Became Mixed with Grief (2007) zurück, sowie in jüngerer Zeit auf Shadowy Fish (2020), wo es als musikalische Metapher für fließendes Wasser auftaucht, wo es sich ständig wiederholt und dennoch nie der gleiche Fluss zweimal ist. Im zweiten Satz finden wir nicht nur ein Materialfragment, sondern ein ganzes Stück – Heaven's Chimes are Slow (2011), eine Meditation über die Zeit basierend auf Christina Rossettis gleichnamigem Gedicht – in neuem Gewand. Während der dritte Satz mit einer resonanten Akkordfolge aus dem letzten Satz meines Streichquartetts This present moment used to be the unimaginable future ... (2019) beginnt, führt diese wiederverwendete Akkordfolge zu einer neuen, kunstvoll verzierten Melodie, die allmählich von einer letzten Welle orchestraler Farben verschlungen wird.
Der Titel wiederum ist, wie auch bei dem Geigenstück aus 2007, der letzten Zeile eines jainistischen Berichts über den Verfall der Schönheit (Indien, 6. Jahrhundert v. Chr.) entnommen, auf den ich in The Clock of the Long Now gestoßen bin. Die Sprache ist zwar mythisch, aber die Ideen klingen in den zeitgenössischen ökologischen und ästhetischen Anliegen mit:
„Dieses Zeitalter, bekannt als ‚Sehr schön, Sehr schön‘, dauerte 400 Billionen Ozeane von Jahren* und wich dem Zeitalter, bekannt als ‚Sehr schön‘, das - wie der Name schon sagt - genau halb so glücklich war wie das erste. Die wunscherfüllenden Bäume, die Erde und die Gewässer waren nur noch halb so reichhaltig wie zuvor. Männer und Frauen waren nur vier Meilen groß, hatten nur 128 Rippen, lebten nur zwei Perioden von unzähligen Jahren und gingen in die Welt der Götter ein, als ihre Zwillinge erst 64 Tage alt waren. Diese Periode dauerte 300 Billionen Ozeane von Jahren und ging allmählich, aber unweigerlich in das Stadium über, das man ‚Traurig, Sehr Schön‘ nennt, als sich Freude mit Trauer mischte.“
Wie so viele Projekte wurde auch die Fertigstellung und Uraufführung dieses Stücks, das für Juni 2020 geplant war, durch die Corona-Pandemie verzögert. Ursprünglich wollte ich das Stück als Hommage zum 80. Geburtstag von Christoph Eschenbach anbieten, eine Widmung, die auch zwei Jahre später noch gilt.
(Christian Mason, Juli 2022)
[*Ein “Ozean von Jahren” ist einhundert Millionen mal einhundert Millionen Palyas. Jedes Palaya ist eine Zeitspanne von ungezählten Jahren.]
Hier können Sie die Uraufführung vom Konzerthausorchester Berlin hören.