Márton Illés (*1975) John Bull: In Nomine VI+XII
[Klar/B-Klar,Vc,Klav] 2013 Dauer: 9'
UA: Karlsruhe (Festival Zeitfluss), 31. Oktober 2013
20 Seiten | 106 g | ISMN: 979-0-004-18548-3 | geheftet
Bei den „In Nomine“-Stücken handelt es sich um die Gegenüberstellung von unterschiedlichen Zeitmaßen. Die gedehnte Zeit des durchgehenden Cantus firmus „Gloria Tibi Trinitas“, dem unterschiedlich schnelle, figurative Bewegungsabläufe entgegengesetzt werden, ist ein gutes Beispiel für die Spannungserzeugung in der Musik. Die Überlagerung von stark divergierenden Zeitmaßen und Spannungstemperaturen ist eine Extremform der Polyphonie, die aus den Rahmen dieser heraustretend die gleichzeitige Anwesenheit unterschiedlicher musikalischer „Dimensionen“ spüren lässt.
Das von mir mit dem Begriff „Polydimensionalität“ beschriebene Phänomen ist beinahe in allen Epochen der Musikgeschichte anzutreffen: im Frühen Mittelalter bei Perotin, Vitry oder später bei den Komponisten der Ars subtilior, dann in der italienischen und niederländischen Vokalpolyphonie, und in den Choralvorspielen von Bach ebenso wie später bei Ives oder Ligeti. Dieses „Divergenzbedürfnis“ ist auch in mehreren meiner Werke wieder zu finden, und vielleicht ist das der entscheidende Grund, warum mich diese Bull-Stücke so sehr faszinieren.
Ein anderer inspirierender Aspekt und der eigentliche „Casus belli“ der Instrumentationsarbeit ist das enorme, inhärente Farbpotenzial der Stücke. Diese heterogenen Linientexturen lassen sich in der Kombination der drei Instrumente wie ungewöhnlich flexible Orgelregister mischen und differenzieren. Es geht aber noch einen Schritt weiter: Durch die besondere Farbenverteilung treten einzelne Linien- und Motivfragmente aus der ansonsten geschmeidig in sich verwobenen Textur plastisch hervor oder eben in den Hintergrund. Dieses Verfahren lässt in das intimste Innere des Werkes blicken und verleiht ihm eine beinahe naturalistische Plastizität und Haptik, wie wenn man eine noch nicht ganz reife, hellgrüne Feige in ihrer, in Form und Farbe harmonischen Ruhe plötzlich auf- und unterbricht und von der unerwarteten Unruhe des stachelig, feurig wuchernden Fruchtfleisches für einen Moment in analytisch beobachtende Aufregung gerät.
(Márton Illés, 2013)