Hans Zender (1936–2019) Im Höhlengebirge
2 Polymeter von Jean Paul [T,Klav] 2015 Dauer: 12'
UA: Dortmund, Konzerthaus, 15. Januar 2016
20 Seiten | 23 x 30,5 cm | 94 g | ISMN: 979-0-004-18510-0 | Broschur
Als mich mein Freund Till Fellner um einige Lieder für eine Tournee mit Mark Padmore bat, deren übriges Programm aus Schumann und Beethoven bestehen sollte, sagte ich sofort zu. Ich bin seit jeher der Meinung, dass sich neue Musik vor allem in unmittelbarer Konfrontation mit den Formen der Geschichte bewähren muss, statt sich in ghettoartiger Isolation abzukapseln. Außerdem scheint mir eine neue Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte, insbesondere mit der Romantik, an der Zeit.
Deswegen war der Wunsch der Auftraggeber nach einem Text von Jean Paul für die Lieder eine weitere Anregung, der ich nicht widerstehen konnte. Wer die reichlich fließenden Tränen in Jean Pauls Romanen mit einem Sich-Gehenlassen in privater Gefühligkeit verwechselt, übersieht nicht nur die ebenso reichlich produzierende „Essigfabrik“ seiner Satiren, sondern auch die konstruktive Kraft dieses großen Dichters. Nirgendwo wird sie wohl so deutlich wie in seinem Musikerroman „Flegeljahre“; so fand ich in diesem Werk auch zwei seiner „Polymeter“ oder „Streckverse“, die mir sehr geeignet erschienen, den heute neu zu findenden Übergang von kalter, ja neurotisch „vereister“ Affektivität zu neu fließender Wärme zu zeigen. Die Verse sprechen von einer Tropfsteinhöhle, deren Formen zwar hart und zackig sind, aber doch in „weich sinkende Tropfen“ zerschmelzen können. Diese Polarität hart/weich wird zur Metapher für die menschliche Träne, welche das Auge „durchschneidet“; diese wiederum wird in einer weiteren Metapher zum Diamanten, der aber endlich weich wird, „und das Auge sieht sich um nach ihm“.
Der Musiker nun setzt die Metaphernschichten fort mit dem natürlichen Gegensatz zwischen dem weich fließenden Gesang und dem von Natur aus perkussiven, harten Klavierklang. Dieser Gegensatz wird durch dynamische Nuancen vermittelt. Die Musik, die sich zunächst zögernd aus „gefrorenen“, erstickten Klavierklängen zusammensetzt, wird vom strömenden Atem des Sängers allmählich erwärmt und zu lebendiger Bewegung gebracht.
Das Werk ist György Kurtág zu seinem 90. Geburtstag zugeeignet.
(Hans Zender, 2015)