Nicolaus A. Huber (*1939) l’inframince – extended
3 Sätze und eine Frankfurter Coda ad lib. für Ensemble, Video- und CD-Zuspielungen [Ens] 2014 Dauer: 21'
Fl(Picc).Ob.Klar.Fag – Hn.Trp.Pos – 2Schl – Klav – 2Vl.Va.Vc.Kb – CD- und Video-Zuspielungen
Uraufführung: Frankfurt am Main, 15. Dezember 2014
Seit 1935 benutzte Duchamp den Begriff „l'inframince“. Die Wahl des Wortes „mince“ (hauchdünn) begründete er damit, dass es ein menschliches, affektives Wort ist und nicht ein Laboratoriumspräzisionsmaß (vgl. H. Molderings, Die nackte Wahrheit, München 2012, S. 187). Dass mein Stück in verschiedenster Weise davon durchsetzt ist, bedeutet die Cage-Bezeichnung „extended“, wenn er über seine „rhythmic structure“ hinausging. Ich selbst habe diesen Begriff immer überlesen und erst vor zwei Jahren ging mir die ungeheure Bedeutung dieses Begriffs auf. Er bedeutet nicht nur wahrnehmen, sondern über verblüffende Beziehungen zum Realen, zum Materiellen, zum scheinbar sehr Bekannten nachzudenken und sich unbekannte Höraufgaben zu stellen – das Hauchdünne als Furor des Hörenwollens. Das ist ein totales und variables subjektives Eindringen ins Objekt. Der Weg ist die eigene Verantwortung, die eigene Phantastik. – Cage hat viel von Duchamp gelernt!
Zwei Performances beziehen sich direkt auf Duchamp: das Buch und eine Seite davon und der sogenannte grüne Strahl (vgl. Molderings, a. a. O., S.193). „Le rayon vert“ wurde in der Surrealisten-Ausstellung in Paris 1947 von niemandem gesehen – ich hatte Lust, allen Augen 7“ grünes Licht zu zeigen, jedoch niemals in allen Einzelheiten erfassbar. Und erfahren Sie das Hohle eines Blattes zwischen seiner Vorderseite und seiner Rückseite (Duchamp) wie das Dazwischen eines Klaviertons von zwei rein gestimmten Saiten und einer nach unten vertieften, „verstimmten“ Saite und zwar auf einer Taste liegend???
Auch in diesem Stück ist die Harmonik geprägt von der Teilchen-(= der Notenkopf-)Wellen-Doppelnatur. Die Wahrscheinlichkeitswelle der Nichtlokalität gestattet große harmonische Reichweiten und unvorhersehbares Auftauchen (mit örtlicher Wechselwirkung) von Tönen, obwohl sie in diesem Stück an ein Netz von übermäßigen Dreiklängen gebunden sind wie Stockhausen (der im Stück an einigen Stellen eine Art Geisterpräsenz hat) sie in seiner „Elektronischen Studie I“ verwendet hat. Nur der Hörer hat dazu den nötigen Abstand als Messender und doch nicht messen Könnender.
Gegen Ende gibt es eine dreifache Fingerperformance, wobei jeder Ausführende einen Monitor vor sich hat mit „wogenden Ästen“, deren Kraft er in (sehr) langsame Bewegungen umzusetzen hat. Außer der Nichtlokalität hat der chinesische Denker Xunzi die übrige Welt der Bewegung beeindruckend beschrieben: „Entweder der Anblick ist gleich, aber an verschiedenen Orten, oder der Anblick ist verschieden, aber am gleichen Ort.“
Das Proportionsgefüge im Stück habe ich der total schrägen Teilung der Fassade von Lucca (Duomo di San Martino) zu verdanken. Auch deren 37 Säulen, die alle großartig und verschieden sind, wirken wie von überall her geklaut, aber mit Kunstverstand aufgestellt.
Nicolaus A. Huber (2014)
CD:
Ensemble Reflexion K, Ltg. Gerhard Eckert
CD Coviello COV 91915