Rainer Nonnenmann (*1968) Der Gang durch die Klippen
Helmut Lachenmanns Begegnungen mit Luigi Nono anhand ihres Briefwechsels und anderer Quellen 1957-1990
Ausgezeichnet mit dem Deutschen Musikeditionspreis 2014
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480 Seiten | 17,5 x 24,5 cm | 1.027 g | ISBN: 978-3-7651-0326-1 | Hardcover
Ein außergewöhnliches Lehrer-Schüler-Verhältnis
Luigi Nono und Helmut Lachenmann waren durch ein außergewöhnliches Lehrer-Schüler-Verhältnis verbunden. In Darmstadt 1957 zeigte sich der 21-jährige Student Lachenmann vom charismatischen Avantgardisten Nono derart beeindruckt, dass er zu diesem als Schüler nach Venedig ging. Ihre Beziehung erlebte Lachenmann fortan als „Gang durch die Klippen“, mit intensivem Austausch von Ideen, Plänen und Kompositionen, persönlichen und künstlerischen Krisen sowie hitzigen Kontroversen, die zu Zerwürfnissen, einer mehrjährigen „Funkstille“ und schließlich zur beständigen Freundschaft führten. Dokumentiert wird dies durch Briefe, Widmungen, Semesterberichte und Vortragstexte, die hier teils erstmals veröffentlicht und in den Kontext gestellt werden.
Aus der Presse:
„Ein Buch, das ich nicht mehr weglegen kann“ (Jörg Widmann)
„... mehr als eine berührende Lektüre. Wer wissen will, was künstlerische Begegnung heißen kann, greife nach diesem Dokument“ (Nikolaus Brass)
„Eine ungemein erhellende Dokumentation“ (Peter Ruzicka)
„Der Leser wird Zeuge eines äußerst spannend zu lesenden Dialoges zweier großer Komponisten“ (Michael Haefliger).
Innerhalb der musikalischen Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Begegnungen von Luigi Nono und Helmut Lachenmann nahezu einzigartig. Sie gehören zweifellos zu den ganz großen Lehrer-Schüler-Beziehungen in der Musik des 20. Jahrhunderts und sind nicht zu vergleichen mit den an Konservatorien und Musikhochschulen geregelten und institutionalisierten Studienverhältnissen. Obwohl Nono auch vor und nach Lachenmann Schüler hatte, wenn auch nur wenige, blieb Lachenmann letztlich der einzige, den er kontinuierlich über einen längeren Zeitraum unterrichtete. Die über hundert Briefe, die beide seit September 1957 bis zu Nonos Tod im Mai 1990 wechselten, sind in mehrerer Hinsicht aussagekräftig. Sie belegen, wie wichtig Nono für Lachenmann als Mensch und Kompositionslehrer war und dies über seine venezianischen Lehrjahre 1958–60 hinaus blieb. Sie geben Einblicke in entscheidende Phasen seines kompositorischen Werdegangs, in denen er – Nonos Beispiel vor Ohren und Augen – sein künstlerisches und politisch-humanes Ethos entwickelte, neue musikalische Wege suchte und schließlich zu eigenen Ansätzen gelangte, die später ihrerseits Nachfolger fanden und Vorbildcharakter für mehrere Schülergenerationen gewannen. Vielleicht bergen sie damit für heutige Kompositionsstudenten auch eine Lehre darüber, unter welchen Anstrengungen und Schmerzen ein Komponist sich und seine Musik entwickeln kann und welche inneren und äußeren Verwerfungen damit einhergehen.
Die Briefe verdeutlichen Lachenmanns von Anfang an enge Verknüpfung von kompositorischer Praxis mit theoretischer Reflexion und mögliche ästhetische und technische Beeinflussungen sowohl Lachenmanns durch seinen Lehrer als auch umgekehrt des späten Nono durch seinen einstigen Schüler. Die Briefe sind kostbare Belege von Nonos Lehrtätigkeit und Zeugnisse seines lebenslangen Suchens als Mensch und Künstler. Sie werfen erhellende Streiflichter auf sein schwieriges Verhältnis zur BRD während der 1960er und 70er Jahre und geben Hinweise zur besseren Datierung von Ideen, Plänen, Kompositionen, Texten, Vorträgen, Kontakten und Aufführungen. Über die persönlichen Begegnungen der beiden Komponisten hinaus beleuchtet ihre Korrespondenz die zentralen kompositorischen Entwicklungen des Zeitraums der späten 1950er und frühen 60er Jahre. Die musikalischen Paradigmenwechsel und dominierenden technischen, ästhetischen und (musik)politischen Diskussionen der Zeit schlagen sich in ihr nieder. Umgekehrt beleuchtet die Korrespondenz das musikalische Zeitgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie wird dadurch zu einem wertvollen Dokument von allgemein musikhistorischem Aussagewert, das hier erstmals ausgewertet und in umfassenden Auszügen zugänglich gemacht wird.
Zu interessanten Quellen werden Lachenmanns und Nonos Briefe nicht zuletzt durch ihren subjektiven und ungeschützten Blickwinkel, was ihre Authentizität verbürgt und eine neue Sichtweise auf bekannte oder nur scheinbar bekannte Sachverhalte öffnet. Wie die meisten brieflichen Mitteilungen, die nicht von vorneherein zur Publikation bestimmt sind, nehmen sie einen Status zwischen mündlichen und schriftlichen Äußerungen ein: einerseits sind sie direkter und spontaner als zur Veröffentlichung bestimmte, sorgfältig abgewogene und – wie wir sie vor allem von Lachenmann kennen – geschliffen ausformulierte Texte; 10 Vorwort andererseits sind sie verbindlicher und überlegter als mündliche Mitteilungen. Ihr Charakter besteht in der Verbindung von konzentrierter Selbstreflexion und verbalisierter Mitteilung. Sie sind zugleich private Aussprache eines Absenders und direkte Ansprache eines Adressaten. Obwohl auch briefliche Äußerungen nicht frei von Rücksichtnahmen oder Selbstdarstellungen sind, so sind es hier doch andere Skrupel und Allüren, die auch ein entsprechend anderes Licht auf die verhandelten Gegenstände werfen. An der Schnittstelle von privater Mitteilung und öffentlicher Verlautbarung gestatten Briefe im Idealfall sowohl Einblicke in die insgeheime Sichtweise der Autoren als auch eine vielleicht weniger verstellte, objektivere Beurteilung der verhandelten Dinge. Auch wenn der Briefwechsel zwischen Nono und Lachenmann durch diese Veröffentlichung nun zu einem Bestandteil ihres Werks wird, ist bei der Lektüre in jedem Fall der private Charakter ihrer Korrespondenz mit zu bedenken, der sich im Laufe der langen wechselvollen Beziehung beider Komponisten ebenso oft und stark veränderte wie die beiden Künstler selbst.
Der hohe Informationsgehalt und die unterschiedlichen Sichtweisen rechtfertigen das ungewöhnliche Vorgehen, vorbehaltlich der einstweilen in Teilen noch offenen Quellenlage und der sich wandelnden aktuellen Auseinandersetzungen mit Nonos und Lachenmanns Werken und Schriften, bereits zweiundzwanzig Jahre nach dem Tod des einen und noch zu Lebzeiten des anderen diese Korrespondenz in extenso vorzustellen. Immerhin handelt es sich um Begegnungen, die inzwischen zum Teil über fünfzig Jahre zurückliegen und also genügend historische Distanz bieten, was indes nicht von Rücksichtnahmen auf noch lebende Personen enthebt. Während der 33 Jahre ihrer Bekanntschaft nahmen die Begegnungen der beiden Komponisten nicht immer einen harmonischen Verlauf. Mehrfach kam es zu Spannungen, Krisen, Zerwürfnissen, zu Entfremdungen und mehrjährigem Schweigen, dann wieder zu Versöhnungen, herzlichen Wiedersehen und intensivem Gedankenaustausch. Bei zwei derart von Zweifeln und Selbstzweifeln, persönlichen und künstlerischen Krisen geschüttelten Persönlichkeiten konnte ein solches Auf und Ab kaum ausbleiben. Bei aller Fülle an Sachinformationen sind die Briefe damit stets auch bewegende Zeugnisse ihrer menschlichen Qualitäten, Makel und wechselvollen Stellungen zueinander, zunächst im Verhältnis von Lehrer und Schüler, dann als zunehmend ebenbürtige Komponisten, als Kollegen und Gleichgesinnte, Diskutanten und Kontrahenten, Vorbilder und Rivalen, schließlich als sich respektierende Gesprächspartner und beständige Freunde. Seine in all ihrer Wechselhaftigkeit beglückenden und bereichernden Begegnungen mit Nono charakterisierte Lachenmann rückblickend als „Gang durch die Klippen“.1)
Helmut Lachenmann, „... und sehen, was ist zu tun ...“. Unterwegs zur „Quelle“: LUIGI NONO, in: Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse (1946–1996), hrsg. von Rudolf Stephan, Lothar Knessl u. a., Stuttgart: DACO 1996, S. 216.