Nicolaus A. Huber (*1939) Hímeros
[Hfe,Schl,Lautsprecher,Zuspielung] 2011 Dauer: 15'
Die Zuspielung finden Sie unter Downloads.
20 Seiten | 27 x 36 cm | 146 g | ISMN: 979-0-004-18479-0 | geheftet
„Póthos“ ist für einen Schlagzeugsolisten, „Hímeros“ für Schlagzeug und Harfe geschrieben. Beide Gestalten der griechischen Mythologie verkörpern Arten der Sehnsucht. Die eine, die Sehnsucht nach etwas, was anderswo ist oder nicht ist, und Hímeros, die Sehnsucht nach dem Naheliegenden, dem angeblich Erfüllbaren. Gerade in dieser anregenden Duobesetzung kann das Schlagzeug das Zerreißende der Harfe verstärken und das Poetische des Klanges ins Irisieren bringen. Wie mir kürzlich eine Tapisserie im Chateau Cadillac (Bordelais) zeigte – der durchs Fenster entfliehende Amor wird von einer Person verzweifelt am Fuß festgehalten: Die Sehnsucht, in welcher Gestalt auch immer, ist nicht einfach da. Sie muss errungen werden, ist extrem flüchtig. Meine harmonischen Sehnsüchte gehören schon seit längerer Zeit der Nichtlokalität und der Wahrscheinlichkeitsfunktion von Tönen als auftauchende, die trotz klarer punktförmiger Jetztzeit den gesamten Stückraum besetzen und gleichzeitig unscharfe (harmonische) Objekte sind. Verschränkte Photonen kennen keine Zeit, keine Gravitation, ihre Wechselwirkung geschieht sofort, instantan. Ist es dann nicht gleichgültig, wie groß deren Entfernung ist? Versucht man dieses Unverständliche der Mikrowelt für die Sinne spannend zu machen, gerät das unmittelbar Nebeneinanderstehende zur großen absurden Entfernung und umgekehrt faltet sich diese zusammen. Das ist nicht mehr das „Problem Einheit“ wie bei Webern oder Nono, sondern ein neuer Zustand der Überlagerung. Ich empfinde dabei immer in die Einheit des Tons, der Harmonik, des positionsneutralen Feldes usw. die Überlagerungen der harmonischen Reichweiten und Entfernungen hinein, Verschränkungen als totale Unruhe. Bis zu einem gewissen Grad steht die Stimmstruktur der Harfe dem entgegen. Die Möglichkeit, immer nur 7-Saiten-Konstellationen zu bekommen und die Pedale mit ihrer Halb- und Ganzton-Beweglichkeit bilden immer wieder Mulden, denen zu entkommen für die langen Reichweiten einzelner Töne nicht einfach ist. Fast zwangsweise kam ich zu einer Annäherung an Claude Debussys Prélude „… Ondine“, einer anderen Sehnsuchtsfigur. Und so gibt es an dieses Stück – eines der genialsten harmonischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts – eine Schlusshommage: Zwei der grundlegenden Materialskalen, phrygisch und im spiegelbildlichen lydisch bilden dort die Schlusspartie, hier die der Harfe. Debussy schrieb auch das Prélude „Ce qu’a vu le vent d’ouest“. Zephir, der aus dem Todesreich kommende, wilde Westwind galt als Vater der drei Sehnsuchtsgestalten der griechischen Antike. Und wer die Westküste Frankreichs kennt, versteht diesen Wind. Sie merken schon, die Harfenistin, mit der ich für dieses Stück probte, ist Französin. Der Schlagzeuger verlockte mich mit seinen wunderbaren Triangeln zu diesem Stück: „Hímeros“!
(Nicolaus A. Huber)