Isabel Mundry (*1963) Non-Places, ein Klavierkonzert
[Klav,Orch] 2012 Dauer: 26'
Solo: Klav – 3.3.3.3. – 3.3.3.1. – Schl(2).Cimb – 2Hfe – Str: 24.0.9.6.4. – Zuspiel-CD
Bei manchen meiner Kompositionen fällt es mir recht leicht, einige Worte über sie zu finden. Überlegungen liegen ihnen zugrunde, die sich in Sprache fassen lassen, selbst wenn sich die Musik in einem zweiten Schritt der Sprache wieder entzieht. Bei Non-Places, ein Klavierkonzert bleiben mir die Worte jedoch fern, selbst wenn einige von ihnen innerhalb der Musik sogar gesprochen werden. Sollte ich also beschreiben, worum es in diesem Stück geht, so ziehe ich es vor, mich auf den Prozess seiner Entstehung zu konzentrieren. Non-Places liegt das Klavierkonzert Ich und Du zugrunde, das ich 2008 komponiert habe. Doch in dieser neuen Version geht es nicht darum, das alte zu erweitern und somit zu revidieren, sondern es geht um eine zweite Perspektive auf die Thematik. Es geht also um ein zweites Stück, welches das erste noch gelten lässt, weil es woanders ist. Hierfür habe ich zwar ein paar Passagen der früheren Komposition übernommen, die meisten jedoch herausgelassen und das Stück in großen Teilen neu geschrieben. Bei der früheren Komposition habe ich das Begriffspaar Ich und Du als eine Denkfigur allen kompositorischen Entscheidungen zugrunde gelegt. Das Klavier und Orchester habe ich mir hierbei nicht als das Gegenüber von Individuum und Masse vorgestellt, sondern als zwei aufeinander bezogene Perspektiven, deren Verhältnis sich in einem Spektrum zwischen Zu- und Abgewandtheit, Bezogenheit und Fremdheit, Zärtlichkeit oder Gewalt bewegen kann. Und es ging auch darum, wie beide Seiten, das Ich und das Du, als Prinzipien je auch in einer von ihnen walten können. Hier knüpft die neue Komposition an. In ihr geht weniger um den sich wandelnden Blick auf ein Gegenüber, sondern es geht um das sich wandelnde Selbst, was einen veränderten Blick auf anderes natürlich nach sich zieht. Es geht um die sich wandelnde Identität. Das klingt vorerst abstrakt, doch anhand der Musik lässt es sich konkret beschreiben. Sie selbst stellt sich zunächst infrage, beginnt mit Alltagsgeräuschen, wie Knistern, Gerede, Gelächter, Klirren oder Digitalsounds. Langsam werden diese Klänge hineingezogen in musikalische Konturen. Das könnte zu einem Prozess von Vorher und Nachher werden, von Nicht-Musik zu Musik. Doch später ertönen solche Klänge erneut, dann jedoch nicht mehr als Vor- oder Ausgelagertes, sondern als aus der Musik selbst hervorgehend. Es sind die gleichen Sounds, doch sie sind zu etwas anderem geworden, wie vieles andere in der Komposition auch. Auf vergleichbare Weise verschiebt sich auch die Harmonik, lässt Tonalität vorbeiziehen und wieder entschwinden, nicht als Zitat und nicht als historischen Sehnsuchtsort, sondern als eine Möglichkeit neben anderen, was für Klänge entstehen und wieder verschwinden können. Die Rolle des Klaviers lässt sich hier eher wie ein Faden beschreiben, der sich durch alle Wandlungen zieht und dabei auch selbst immer wieder verfärbt. Non-Places – dieser Begriff kommt aus der Soziologie und bezeichnet Orte, die quasi ortlos sind, weil sie in sich keine Identität ausbilden. Sie sind transitorisch, wie Flugzeughallen, Hotelketten oder Einkaufszentren. Das Stück spielt gelegentlich mit solchen Assoziationen. Man könnte meinen, dass an solchen Orten das Selbst verschwindet. Doch man kann sie auch als Leerstellen beschreiben, in denen das Selbst sich wieder als eine Möglichkeit erfährt, die sich wandeln kann. Zu Beginn der Komposition hört man diffuses Gerede, später geht aus ihr gesprochener Text hervor, nämlich einige Passagen aus der Lyrik von Oswald Egger. Sie enden mit den Worten „Nichts, das ist“. Diese Worte könnten als melancholisch gedeutet werden. Für mich bedeuten sie Schönheit.
(Isabel Mundry, 2012)
CD:
Charles-Antoine Duflot (Violoncello)
CD OEHMS OC 765
Bibliografie:
Blankenburg, Henning Sven: „Non-Places, ein Klavierkonzert“ von Isabel Mundry, Bachelorarbeit Universität zu Köln 2016
Mundry, Isabel: Nicht-Orte. Sibylle Kayser im Gespräch mit Isabel Mundry, in: Programmheft musica viva, 22. Februar 2013 (München), S. 16-21.
Nemecek, Robert: Mit sinnenfroher Spielfreude. Zur Renaissance des Klavierkonzerts in der Musik der Gegenwart, in: Piano News (2021), Heft 1, S. 22-26