Martin Smolka (*1959) My My Country
[Orch] 2011/2012 Dauer: 20'
6(4Picc.2A-Fl).2(Eh).0.3B-Klar.4SSax(Asax).0. – 4.0.3.1. – Schl(3) – 2Hfe – Klav – Str: 12.11.10.9.8.
Uraufführung: Donaueschingen, 19. Oktober 2012
Ich sehe es als einen wesentlichen Teil meiner Arbeit an, den verbrauchten musikalischen Elementen wie Melodie oder konsonanten Harmonien und Intervallen neue Energie zu verleihen – sie zu modulieren, umzubiegen und in einen unerwarteten Zusammenhang zu setzen. Nach dem 20. Jahrhundert mit all seinen faszinierenden Innovationen glaube ich daran, dass es an der Zeit ist, die über Bord geworfenen Schönheiten wieder zu beleben, sie von der Tünche und den Lügen der Pop-Kultur zu reinigen und sie aus dem ausschließlichen Gebiet des Kitsches zu befreien.
In diesem Stück ist ein fokussiertes Element das „der mikrotonalen Form der Stimmung“ (Arbeitsbegriff). Viele der verwendeten Stimmungen haben verschiedene Formen: ¼-Ton tiefer, 1/6-Ton tiefer, manchmal sogar 14 Cent tiefer (die Differenz zwischen der temperierten großen Terz und der reinen großen Terz 5:4). Diese Formen klingen oft gleichzeitig zusammen, um „Tondichte“ (ein anderer Arbeitsbegriff) zu erzeugen.
Eine relativ konsonante Harmonie wie der unvollständige Septimakkord oder Dreiklang mit Ergänzung wird gewöhnlich Schritt für Schritt durch die „mikrotonale Form“ seiner Stimmung erweitert. Die konsonante, quasi tonale Qualität des Akkords bleibt bestehen, während gleichzeitig ein reichhaltiger Komplex verformender Schwebungen in Erscheinung tritt. Dies geschieht zumeist im Pianissimo. Die Verformung erscheint hier ungewöhnlich reich und unentwirrbar. Dieses faszinierende Zittern, Schauern und Glitzern, ihr wild flüsternder Tanz, festigt die Poesie des Stückes.
Eine andere Form dieses „Tanz der Schwebungen“ ist ein enger Cluster von Mikrotönen. Hier wird die Andeutung einer konsonanten Qualität durch die Stimmung der Kanten gewährleistet, zum Beispiel das Intervall der kleinen Terz, das wie eine auratische Kontur hervortritt.
Die „mikrotonalen Formen der Stimmung“ ermöglichen ebenso den Gebrauch komprimierter Intervalle (wie zum Beispiel die tiefere verminderte Dezime, die tiefere verminderte Sexte usw.) und deren expressive Spannung in der „großen Einheit“ der Geigen oder den fast-Intonations-Akkord des 6. bis 9. Teiltons und sein friedvoller Klang, der an das Schnurren von Katzen erinnert.
Als Basis der exakten Intonation der Mikrointervalle dienen die Skordatur der beiden Harfen und ein erweiterter Gebrauch nichttemperierter Harmonien der geteilten Celli, der Doppel-Bässe und der Bratschen (insbesondere die fünfte und siebte). Die Holzbläser benutzen spezielle Griffe für die ¼ und 1/6-Mikrotöne. Die gleichen Intervalle werden von den Geigen eingestimmt.
„My My Country“ ist dem Andenken meines Vaters Jaroslav Smolka (1933-2011) gewidmet, einem Musikwissenschaftler und -historiker, Komponisten, Kritiker und für lange Jahre einflussreichen Persönlichkeit des tschechischen Musiklebens. Sein großes Wissen verkörperte neben vielem anderen auch jede Note von „Mein Vaterland“, dem Zyklus sinfonischer Dichtungen von Bedřich Smetana. Mein Vater widmete einen Großteil seiner knappen Zeit mir und meiner Schwester, um uns alles über Musik beizubringen. Nichtsdestotrotz, die tiefste Erinnerung an die Musik meiner Kindheit ist das Tippen auf seiner Schreibmaschine – der ununterbrochene Klang in unserer Wohnung. My my my home.
Martin Smolka (Übersetzung aus dem Englischen: Bernd Künzig)
CD:
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Rupert Huber
CD NEOS 1103-05 (3CDs)
Bibliografie:
Schick, Tobias Eduard: Martin Smolkas Neubelebung durmolltonaler Harmonik durch Neukontextualisierung und mikrotonale Verfremdung, in: Martin Smolka, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte 191), München: edition text + kritik 2021, S. 26-47