Hanns Eisler (1898–1962) Keenen Sechser in der Tasche
Songs und Balladen herausgegeben von Oliver Dahin und Peter Deeg [Singst,Klav]
64 Seiten | 23 x 30,5 cm | 258 g | ISMN: 979-0-2004-9116-6 | Broschur, Fadenheftung
Hanns Eislers Songs und Balladen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre genießen heute längst Kult-Status: Kompositionen wie das Stempellied (Keenen Sechser in der Tasche), das Lied der Bergarbeiter oder die Ballade von den Baumwollpflückern wurden einst von Ernst Busch populär gemacht und sind mittlerweile in historischen Grammophonaufnahmen bequem auf CD zugänglich. Die zugehörigen Noten für Singstimme und Klavier waren bislang dagegen weniger einfach zu beschaffen. Der neue Auswahlband mit 20 Liedern (nach Texten von Arendt, Brecht, Gilbert, Tucholsky, Weinert u. a.) sorgt endlich für Abhilfe: Neben Eisler-Klassikern, die längere Zeit nicht greifbar waren, präsentieren die Herausgeber verbesserte Editionen darunter das bekannte Tucholsky-Chanson Wenn die Igel in der Abendstunde (Anna-Luise) und das Kuppellied aus Brechts Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. Vervollständigt wird die Sammlung durch sieben Erstdrucke, aus denen der im Exil geschriebene, höchst melancholische Gruß an die Mark Brandenburg (Text: Robert Gilbert) herausragt. Das Oeuvre des Liedkomponisten Eisler erweist sich einmal mehr als unerschöpflich.
1. Stempellied (Lied der Arbeitslosen) / 1929 | (Robert Gilbert) |
2. Lied der Bergarbeiter / 1929 | (Anna Gmeyner) |
3. Gustav Kulkes seliges Ende / 1929 | (Erich Weinert) |
4. Ballade von den Baumwollpflückern / 1930 | (B. Traven) |
5. Ballade von den Säckeschmeißern / 1930 | (Julian Arendt) |
6. Wenn die Igel in der Abendstunde (Anna-Luise) / 1930 | (Kurt Tucholsky) |
7. Die Heinzelmännchen / 1932 | (Robert Gilbert) |
8. Der Marsch ins dritte Reich / 1932 | (Bertolt Brecht) |
9. Spartakus 1919 / 1932 | (Richard Schulz) |
10. Die Osseger Witwen / 1935 | (Bertolt Brecht) |
11. Kuppellied / 1936 | (Bertolt Brecht) |
12. Mutter Beimlein / 1937 | (Bertolt Brecht) |
13. Deutsches Miserere / 1943 | (Bertolt Brecht) |
14. Kälbermarsch / 1943 | (Bertolt Brecht) |
15. Gruß an die Mark Brandenburg / um 1945 | (Robert Gilbert) |
16. Der Butterräuber von Halberstadt / um 1945 | (unbekannter Verfasser) |
17. Aberglauben-Lied / 1948 | (Johann Nestroy) |
18. Moritat vom Vatermörder Christopher Mahon / 1956 | (Peter Hacks / Anna E. Wiede) |
19. Von den Helden Irlands / 1956 | (Peter Hacks / Anna E. Wiede) |
20. Bleib gesund mir, Krakau / 1962 | (Mordechai Gebirtig) |
Als Schüler von Arnold Schönberg schrieb Hanns Eisler (1898–1962) moderne Kammermusikstücke und atonale Kunstlieder, die 1925 auf den Avantgarde-Musikfesten in Donaueschingen und Venedig gespielt wurden. Bahnbrechenden Erfolg erzielte er aber einige Jahre später als Komponist politischer Chöre, Songs und Balladen in Berlin – vor allem, seit er ab 1929 zusammen mit dem Schauspieler und Sänger Ernst Busch auftrat. Busch sang Eislers Lieder zunächst im Theater: an der Piscatorbühne und im nur kurze Zeit bestehenden „Theater der Arbeiter“ – etwas später an der Berliner Volksbühne und in den Inszenierungen Bertolt Brechts. Im Gegenzug fungierte Eisler als Klavierbegleiter bei Buschs Auftritten in Arbeiterkneipen und Kabaretts (vor allem in Werner Fincks „Katakombe“), aber auch in den großen Festsälen der Arbeiterbezirke Wedding und Neukölln. Der sowjetische Schriftsteller Sergej Tretjakow hat das Duo nach seinem Berlin-Besuch im Jahr 1931 so beschrieben:
„Der Sänger Ernst Busch. In Hemdsärmeln. Das Hemd in die Hose gesteckt. Hände in den Hosentaschen. Herausfordernde Haltung. So stehen deutsche Arbeiterjungen gern da und betrachten spöttisch einen Herrn mit Melone, Atembeschwerden und Siegelring, der ihnen vorsichtig aus dem Weg geht […]. Dieser Busch hat nichts mit dem Frack und der Hemdbrust des Solisten zu tun. Er hält keine Notenrolle in der Hand. – Und am Flügel ein Zwerg, breitschultrig, mit großem Kopf, blitzender Glatze und Hosen, deren Harmonikafalten bis zu den Fersen gehen. Das ist der Komponist der Lieder, die Busch singen wird: Hanns Eisler.“
Mit politischen Songs wie dem Stempellied („Keenen Sechser in der Tasche“), dem Lied der Bergarbeiter oder der Ballade von den Säckeschmeißern trafen Busch und Eisler offenbar den richtigen Ton, um brennende Themen wie Arbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise keineswegs moralinsauer, sondern gewissermaßen „mit Herz und Schnauze“ zu thematisieren. Auch andere Interpreten wie Kate Kühl oder Erich Weinert sangen damals Eislers Lieder, die bald in immer größeren Sälen und schließlich bei Massenveranstaltungen im Berliner Sportpalast vor 25.000 Menschen zu hören waren. Die erste Eisler-Schellackplatte kam Ende 1929 in Umlauf – die für längere Zeit letzte (Der Marsch ins dritte Reich) im Januar 1933.
Obwohl Hanns Eisler seine Aktivitäten als politischer Komponist auch im Exil fortsetzte, trat gegen Ende der 1930er Jahre doch eine Pause in seiner Song-Produktion ein: Abgeschnitten von seinem Publikum und seinem besten Interpreten Ernst Busch – der zunächst inFrankreich interniert wurde und dann bis zum Kriegsende in Nazideutschland inhaftiert blieb – komponierte Eisler im amerikanischen Exil vorübergehend wieder Zwölftonmusik und die filigranen Kunstlieder seines Hollywooder Liederbuchs (Ausgabe: DV 9070). Erst gegen Ende des Krieges wandte er sich wieder populären Songs und Balladen zu, von denen er einige (wie das Deutsche Miserere von Brecht oder den hier erstmals publizierten Gruß an die Mark Brandenburg von Robert Gilbert) umgehend nach Berlin schickte, als 1946 der Kontakt zu Ernst Busch endlich wiederhergestellt war. Nach seiner Rückkehr aus der Emigration (1948) schrieb Eisler in Wien und schließlich vor allem in Ost- Berlin erneut zahlreiche Lieder fürs Theater, von denen drei besonders reizvolle (aus Nestroys Höllenangst und Synges Der Held der westlichen Welt) für das vorliegende Heft ausgewählt wurden.
Den Umständen ihrer Entstehung entsprechend sind einige der hier versammelten Lieder in Eislers Nachlass nicht annähernd so gut dokumentiert wie etwa seine Klaviersonaten oder Orchesterwerke. Manchmal wurde das musikalische Gerüst eines Liedes nur skizzenhaft fixiert, oder es bestehen (textliche wie musikalische) Diskrepanzen zwischen den vorhandenen Notenautographen und der von Eisler oder Busch selbst auf Schallplatte oder Tonband festgehaltenen Fassung eines Liedes. Für die Edition wurden daher in mehreren Fällen – über die in den Anmerkungen ab S. 61 Rechenschaft abgelegt wird – auch historische Tonaufnahmen als maßgebende Quellen in die herausgeberischen Entscheidungen einbezogen.
Neben etlichen Erstdrucken werden in der vorliegenden Ausgabe einige der bekanntesten Lieder Hanns Eislers wie das Stempellied, die Ballade von den Baumwollpflückern oder Wenn die Igel in der Abendstunde erstmals nach langer Zeit wieder in authentischen Klavierfassungen zugänglich gemacht. Bleibt zu wünschen, dass sie 50 Jahre nach dem Tod des Komponisten (am 6. September 1962 in Ost-Berlin) noch einen guten Teil jener Wirkung entfalten, die der Pianist und Publizist Eberhard Rebling Anfang der 1930er Jahre bei einem der legendären Auftritte von Busch und Eisler beobachten konnte: „Die Leute sind fast durchgedreht. Damals dachte ich mir: Vor solch einem begeisterten Publikum würde ich auch gerne einmal spielen! Ich denke, es trug Züge dessen, was später Popmusik genannt wurde – denn die Leute gingen dermaßen mit, sie sangen die Lieder mit und johlten wie im Fußballstadion.“
Berlin, Frühjahr 2012