Isabel Mundry (*1963) Depuis le jour
(mit Blick auf Sweelinck) [7Vl.4Va.3Vc.Kb – 2Schl] 2012 Dauer: 23' Text: Thomas Kling
UA: Hamburg, Kulturkirche Altona (Hamburger Ostertöne), 6. April 2012
Eine neue Musik zu komponieren, bedeutet unumgänglich, sich in Form von Annäherung oder Abgrenzung gegenüber älterer Musik zu positionieren. Jeder neuen Komposition ist also die Vorausgegangene eingeschrieben, doch in unterschiedlichen Graden können solche Einflusslinien hörbar gemacht oder verwischt werden. In meiner eigenen Musik hat es mich immer wieder interessiert, die Perspektiven auf Vergangenes zu wechseln, von der Bearbeitung über die Verwandlung bis hin zur Distanznahme, vor allem in meinen elektronischen Arbeiten.
In der Komposition „Depuis le Jour“ sind die wechselhaften Perspektiven auf alte Musik ein zentrales Motiv. Sie handelt vom Erinnern und Vergessen, vom Vergehen und Wiederaufblitzen, vom Verweilen, Verwandeln, Rück- oder Abwenden. Dabei bewegt sie sich auf drei Achsen. Die eine Achse besteht aus drei weltlichen Chorwerken des niederländischen Komponisten Jan Pieterszoon Sweelinck aus der Spätrenaissance. Diese Werke sind handwerklich ebenso souverän, wie inhaltlich vielschichtig, tastend und suchend. In mehrfacher Weise bewegen sie sich auf Schwellen. Im Laufe meiner Komposition treten die drei Werke Sweelincks in unterschiedlicher Deutlichkeit hervor, durch schrittweise Annäherungen oder plötzliches Hineinbrechen, durch Ein- und Ausblenden, innere Löcher oder Überlagerungen, klangliche Verwischungen oder Verzerrungen, aber manchmal auch durch historisch anmutende Instrumentierungen, die Momente von Geschlossenheit in sich tragen. Die zweite Achse meiner Komposition bewegt sich entlang des Gedichtes „Ethnomühle“ von Thomas Kling. In ihm geht es darum, wie die Sprache selbst stets wandelnde Erinnerungsmomente in sich trägt. Durch ihre permanente Wiederholung und Transformation erzeugt, zermahlt und zerstäubt sie sich wieder und wieder. Dabei hinterlässt die Sprache unabdingbar ihre Spuren und verwischt diese ebenso unabdingbar selbst. Dieses Gedicht wird im Laufe meiner Komposition nach und nach von den Musikern rezitiert, mal in Phrasen, mal in Worten und mal in der Zersplitterung in Silben, Buchstaben oder Atemgeräusche. Die dritte Achse bildet schließlich meine Musik selbst. Immer wieder nähert sie sich quasi mimetisch den Worten Klings oder den Klängen Sweelincks an, oder sie bezieht beide Achsen aufeinander. Doch auf ihren Wegen zu diesen beiden Referenzpunkten entdeckt meine Musik auch immer wieder ihre eigenen Bedingungen, geht ihnen nach, durchleuchtet sie und erzeugt ihnen eine eigene Räumlichkeit.
„Was ist Musik und wann ist Musik?“ – Ich könnte auch sagen, dass meine Komposition von diesen beiden Fragen getragen ist, denn immer wieder begibt sie sich an Randzonen, wo Musik nicht mehr oder noch nicht ist. Doch wäre ich diesen beiden Fragen zu sehr verhaftet geblieben, so wäre wohl kein einziger Ton entstanden. Und so handelt meine Komposition nicht zuletzt auch davon, wie sie gerade dort entstehen kann, wo sie ihr Wissen über sich selbst verliert.
(Isabel Mundry, 2012)