Nicolaus A. Huber (*1939) Zum Beispiel: Wogende Äste
[Ens] 2011 Dauer: 15'
Fl.Klar.Pos.Schl.Klav.Vl.Va.Vc.Kb. - Zuspiel-CD
Der zweite Anschlag ist nicht wie der erste. Man könnte es wie früher als Klangfarbenfolge auffassen oder die dazwischen liegende Dramatik hören oder als Dislokation begreifen. Dieses Verorten von Teilchen, Klangpartikeln, Tonköpfchen, die in verschiedene Richtungen geschickt werden, gehört zweifelsohne der Makrowelt an. Also nichts Besonderes. Daran sind unsere Sinne gewöhnt. Hier haben sie sich verfeinert, ihre Bedürfnisse und Orientierungen ausgebildet, sich eingerichtet. Es ist die klassische Physik Newtons, deren Gesetze ja auch immer noch gelten. Eigentlich leben wir im Mesobereich. Das ganz Lange, das sehr weit Entfernte und das Winzige in seiner Vielfalt der Teilchenwelt erleben wir eher durch Beschreibung. Sie regt unsere Sinne an. Theorien darüber sind und machen erfinderisch, begeistern, berauschen.
Aber in unserer Welt kommt das Nichtlokale, der Welle-Teilchen-Doppelcharakter, die Obsoletheit von Ursache und Wirkung, von Setzen und Fortsetzen, von Zusammenhang als Vergangenheit und Zukunft , von entweder hier oder dort usw. nicht spektakulär daher. Oder findet Ihr Auge es beim Betrachten Ihres Daumens spannend, dass unterhalb der DNS (10-9) die Teilchen keinen Persönlichkeitsbezug zu Ihnen mehr haben, aber offenbar doch notwendig sind? Ein von Roy Lichtenstein gezeichneter Daumen bleibt ein Augen-Daumen.
Insofern ist mein Ensemblestück „Zum Beispiel: wogende Äste“ gar nicht spektakulär! Trotzdem gibt es eine Menge von Beeinflussungen aus der Mikrowelt, die nicht mehr nur die Harmonik als ein Gehen von Augenblick zu Augenblick (Frequenzerkennbarkeit etwa zwischen 12 und 60 ms) begreift, sondern diesem alten Notenkopf-Teilchencharakter die größeren Reichweiten der Wellenfunktion - Auftauchen als Wahrscheinlichkeitswelle, Verwischen der welcher-Weg-Information z.B.- erschließen möchte. Harmonik als Tonwelt. Das Jetzt bleibt die vereinfachende Messung. Das Hören und Reproduzieren des Ganzen ist der Zugang, von dem ich überzeugt bin. Natürlich gibt es noch das, was früher Zusammenhang, Fasslichkeit hieß. Aber dessen Konsistenz definiert sich aus dem, was in sie mikronisch hineingeschoben ist. In die punktförmig geordnete Ton- und Klangwelt schießen Wahrscheinlichkeitswellen - ein Versuch, Harmonik so über das Stück hinschwingend, vibrierend zu verstehen.
Der zweite Anschlag ist dann nicht nur nicht wie der erste, sondern überhaupt ganz weit weg.
Nah beisammen ist ein Zufall durch die Mesowelt. Aber ohne sie kommt wiederum keiner zurecht ...
(Nicolaus A. Huber, 2011)
CD:
ensemble reflexion K, Ltg. Gerald Eckert
CD COV 91509
Bibliografie:
Seidl, Hannes: Wie weit können wir gehen? Reichweiten in den Kompositionen Nicolaus A. Hubers, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 44-63.