Nicolaus A. Huber (*1939) ICH und ICH
Sokrates zum 70. und eine Combine-Coda ad lib. [S,Ens (CD ad lib)] 2010 Dauer: 16' / 24' Text: Nicolaus A. Huber und Rainer Maria Rilke
Solo: S - Klar.Schl.Git.Klav.Vc
UA: Luxemburg, 3. Dezember 2011
In dem Land, in dem ich wohne, arbeitet man immer „hart“, so sagt man. Das Geld ist „gutes Geld“, jedenfalls „hart verdientes Geld“. Trotzdem bleibt es dabei: Geld hat eine belebende Wirkung, ja so belebend, dass es zu einer exzessiven Größe geworden ist, deren Macht uns nicht nur in Krisen stürzt – wer bezahlt? –, sondern die Gesellschaft so zersplittert, dass von den einst so dynamischen Entdeckungen neuer Möglichkeiten des Ichs und der subjekthaften Innenwelten wenig Humanistisches geblieben ist. Marxens Bemerkungen zum „Sinn des Habens“ und seiner Auswirkungen auf alle unsere Sinne, denen die Kraft zu einem zündenden Menschseinwollen abhanden gekommen ist, sind meiner Meinung nach so wahr geworden, dass alles eher zu einer Farce, einer Karikatur tendiert.
Natürlich sind wir „vernetzt“, dauerkommunikativ beansprucht. Je euphorischer alles gepriesen wird, um so ärmlicher zeigt sich die stoffliche Seite. Gerade in den vielen letzten Krisen und Enthüllungen zeigt sich mir: Der Mensch ist ein Dreckshaufen! Je zerschleuderter die Gesellschaft ist – man nennt das ausdifferenzieren –, desto eruptiver zeigen sich die Egos, der „Einzige“ gegen die übrigen „Einzigen“.
Die hoffnungsvoll gestarteten gesellschaftlichen Bewegungen, die ich miterleben konnte, schienen uns ein Anfang zu sein, aber sie waren schon das Maximum. Der Eigennutz, der gleichzeitig zum gesellschaftlichen Nutzen werden sollte, richtete sich an den Menschen als Gattung, deren aus Prinzip hoffnungsvolle Strukturenvielfalt sind WIR. Leider treiben wir auseinander. Die Brechtsche Lehrstückmethode, die sich an diese Individualstrukturen heranzumachen versuchte, ist an diesen gescheitert. Marx gibt in seinen Schriften dem Menschen eine ungeheuere (praktische) Erhabenheit. Er analysiert dazu die „Werkzeuge“, die wir dafür (historisch) brauchen. KUNST ist so ein Werkzeug. Mit ihrer experimentellen Pflicht zur Freiheit steht sie uns gegenüber, als An- oder Vorlauf unserer Natur. Das allein ist schon problematisch geworden, denn es beschreibt das Wesen der Avantgarde. Obsolet?
Zu meinem eigenen 70. Geburtstag habe ich mir einen Gefährten gesucht, Sokrates, der in seinem 70. Lebensjahr den Giftbecher trank. Interessanter aber dazu ist seine Apologie und Platons Phaidon, die letzten Gespräche, die Sokrates vor seinem Tode führte. Ihm ist ICH und ICH gewidmet.
Nicolaus A. Huber (2010)