Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption
herausgegeben von Bach-Archiv Leipzig
328 Seiten | 17 x 24,5 cm | 791 g | ISBN: 978-3-7651-0443-5 | Hardcover
Der internationale Kongressbericht betrachtet die Bach-Rezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns unter dem Aspekt institutioneller und aufführungspraktischer Kontinuitäten und Umbrüche. Die verbreitete Hypothese einer Epochenzäsur zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert erweist sich dabei als nicht mehr haltbar. An ihre Stelle tritt ein neues Verständnis von der Lebendigkeit und Langlebigkeit barocker Ensembletraditionen und Darbietungsweisen bis weit ins 19. Jahrhundert und sogar bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein. Die Beiträge des Bandes befassen sich mitunter erstmals aus organologischer, quellenkundlicher, institutionsgeschichtlicher, sozialhistorischer und kompositionstechnischer Sicht mit der Thematik.
Brown, C. | Zum konzeptionellen Wandel von Notation und Aufführungspraxis in der klassischen und romantischen Epoche | |
Fontana, E. | Leipziger Klaviere und Klavierbauer der Mendelssohn-Zeit | |
Fontana, Tauba, Thierbach | Klaviere und Klavierbauer in Mendelssohns Briefen | |
Friis, S. | Die Violoncellosuiten von Bach in neuem Licht | |
Geck, M. | Von Händel bis Schumann - die Idee des Volksoratoriums | |
Gerber, M. | Leipziger Bürgerhäuser des Vormärz und ihre Musikpraxis am Beispiel von Henriette Voigt | |
Hartinger, A. | Eine gescheiterte Aufführung als Quelle zur Direktions und Probenpraxis | |
Osterhammel, J. | Übergänge ins 19. Jahrhundert – Anmerkungen eines Historiker | |
Tarr, E. | Friedrich Benjamin Queisser, Julius Kosleck und der Übergang von Natur- zu Ventiltrompeten im 19. Jahrhundert | |
Tentler, I. | Zur Auswahl und Aufführungspraxis der Werke von Johann Sebastian Bach durch den Leipziger Chorverein Carl Riedels | |
Wiermann, B. | Lehranstalt und Kultureinrichtung: Das Leipziger Konservatorium | |
Wohlthat, M. | Zu Aufführungen von Händels Judas Maccabaeus in der Instrumentierung von Peter Joseph von Lindpaintner | |
Wolf, U. | Zur Kirchenkantate in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts | |
Wollny, P. | Gattungs- und Stilprobleme in Mendelssohns Choralkantaten |
Die Beschäftigung mit der Bach-Rezeption im Zeitalter Felix Mendelssohn Bartholdys und Robert Schumanns schloss von Beginn an die Untersuchung von aufführungspraktischen Gegebenheiten und vor allem Wandlungsprozessen mit ein. Insbesondere die weitreichenden Eingriffe, die Bachs Werke im Zuge ihrer partiellen Wiederentdeckung und Reintegration in die Konzertlandschaft der Romantik hinnehmen mussten, schienen auf eine gegenüber der Bach-Zeit völlig veränderte Klangwelt zu deuten und damit die Hypothese einer eher schroffen Epochenzäsur zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert zu stützen. Das Ausgreifen einer historisch informierten Aufführungspraxis bis weit in das genuin romantische Repertoire hinein und zahlreiche wissenschaftliche Einzelbefunde insbesondere in den Bereichen der Instrumentenkunde und Spieltechnik haben in den letzten Jahren aber den Blick für die Lebendigkeit und Langlebigkeit barocker Ensembletraditionen und Darbietungsgewohnheiten geschärft, was zu einem neuen Verständnis der Musik des 19. Jahrhunderts und ihrer Verwurzelung in der älteren Tradition beigetragen hat. Auch im Bereich der musikbezogenen Institutionen und Aufführungskontexte überlagerten und verbanden sich Neugründungen von Laienchören, Konservatorien und professionell verwalteten bürgerlichen Konzertorchestern mit zahlreichen Kontinuitäten etwa hinsichtlich der kirchenmusikalischen Dienstensembles und Repertoireprofile.
Nachdem sich das Kooperationsprojekt BMS auf zwei internationalen Symposien 2005 und 2007 zunächst den kompositorischen Verbindungslinien zwischen Bach, Mendelssohn und Schumann sowie der besonderen Bedeutung der Orgel in diesem Kontext angenommen hatte, war es nur natürlich, als nächstes die Frage aufführungspraktischer und institutioneller Traditionen und Umbrüche an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Zu diesem Zweck trafen sich im November 2009 Musikwissenschaftler und Historiker aus Deutschland, England und der Schweiz, um zum ersten Mal überhaupt organologische, quellenkundliche, institutionsgeschichtliche, sozialhistorische und kompositionstechnische Zugänge und Befunde zu diesem Themenkreis zu erörtern. Dabei konnten anhand neuer Überlegungen und detaillierter Quellenstudien tradierte Vorurteile und Fehlannahmen hinsichtlich eines alle Bereiche der Musiklandschaft erfassenden Umbruchs um 1800 korrigiert oder zumindest relativiert werden, wohingegen sich eher das spätere 19. oder gar frühe 20. Jahrhundert als Ausgangspunkt einer vom barock-klassischen Usus fundamental verschiedenen Aufführungspraxis herauskristallisierte. Im Schatten langfristiger Kontinuitäten ließen sich jedoch tatsächlich auch echte Neuansätze im Bereich der Instrumente und Ensembles ausmachen, was vor allem mit den veränderten Darbietungskontexten und Trägerinstitutionen der öffentlichen und privaten Musikausübung zusammenhing. Die ungebrochene Pflege traditionsgesättigter Gattungen vor allem im Bereich der geistlichen Musik sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter der Oberfläche eines weitgehend beibehaltenen formalen Gewandes teils völlig veränderte musikalische Konzeptionen entwickelt wurden.
Zwei einleitende Beiträge beschäftigen sich mit grundsätzlichen Fragen sowohl der untersuchten Epoche als auch der Methodologie und Geschichte ihrer wissenschaftlichen Erschließung. Jürgen Osterhammel (Konstanz) widmet sich dabei aus der Sicht des Historikers der Frage von Kontinuitäten und Neuaufbrüchen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert. Er problematisiert einerseits gängige Konzepte einer vermeintlichen Epochengrenze um 1800 und arbeitet andererseits anhand konkreter Fragestellungen und Kategorien einige für das Gesellschafts- und Kulturverständnis der Zeit in der Tat fundamentale Entwicklungslinien heraus.
Clive Brown (Birmingham) beschäftigt sich anhand zahlreicher Details der Notations- und Aufführungsgewohnheiten in Klassik und Romantik mit der Frage, welche Quellen für eine solche Untersuchung überhaupt zur Verfügung stehen und wie sie sachgerecht interpretiert werden können. Beide Beiträge stecken damit das historische und organologische Terrain ab, auf dem die folgenden Einzelstudien angesiedelt sind.
Es entspricht der empirischen Ausrichtung des Forschungsprojekts Bach – Mendelssohn – Schumann, kompositionsgeschichtliche und ästhetische Verbindungslinien stets im Kontext des für den Epochenklang verantwortlichen, jedoch selbst in stetiger Entwicklung begriffenen Instrumentariums sowie der jeweils gängigen Spielweisen zu diskutieren, zugleich jedoch die institutionellen und soziokulturellen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, unter denen sich die Produktion und Reproduktion auch der Musik Bachs, Mendelssohns und Schumanns vollzog. Drei Beiträge widmen sich dabei bestimmten Instrumentengruppen, die für die Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts eine essentielle, aufgrund tiefgreifender Veränderungen in Bau und Handhabung für die Wiedergabe Bachscher Musik jedoch zugleich höchst problematische Rolle spielten. Eszter Fontana (Leipzig) rehabilitiert mit dem Leipziger Klavierbau der Mendelssohn- Zeit eine bisher kaum gebührend gewürdigte Traditionsschicht der örtlichen Musikpflege. Die Untersuchung der baulichen Eigenheiten und Klangideale der einzelnen Herstellerfirmen lässt dabei auf ein vielgestaltiges pianistisches Klangbild schließen, das den Musikern je nach Vorliebe, Repertoire und Kontext viel Spielraum für eine individuelle Tonästhetik ließ.
Edward Tarr (Rheinfelden) widmet sich mit dem Übergang von Naturinstrumenten zu Ventiltrompeten im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einer wesentlichen Weichenstellung in der Geschichte der Blechbläser. Anhand der Biographien und bevorzugten Instrumente wichtiger Trompeter des 19. Jahrhunderts werden dabei höchst unterschiedliche Annäherungsweisen an die seinerzeit kaum ausführbaren Clarinpartien Bachs vorgestellt.
Weiter zurück ins 18. Jahrhundert führt der Beitrag von Sören Friis (Odense), der sich mit Bachs Suiten für Violoncello solo beschäftigt und dabei mit der Skordatur eine Stimm- und Notationsgewohnheit in den Vordergrund stellt, die sich in der Musikpraxis des Nachbarock kaum noch behaupten konnte. Die aus der Analyse der Notation gewonnenen Erkenntnisse zur Spieltechnik erlauben weitreichende Rückschlüsse auf den von Bach bevorzugten Instrumententyp.
Dem Zusammenhang von Aufführungspraxis, Darbietungskontext und Institutionsgeschichte widmen sich die folgenden fünf Beiträge. Anselm Hartinger (Würzburg / Basel) rekonstruiert anhand einer gescheiterten Leipziger Aufführung des Jahres 1833 und ihres aktenmäßig überlieferten dienstlichen Nachspiels Grundzüge der kirchenmusikalischen Direktions- und Probenpraxis der Zeit und widmet sich dabei den komplexen Zusammenhängen von Ensembletyp, Repertoireentwicklung und gewandelter Hörerwartung. Barbara Wiermann (Leipzig) untersucht mit der Aufführungstätigkeit des 1843 gegründeten Leipziger Conservatorium der Musik die Praxis einer für Jahrzehnte als vorbildlich angesehenen Lehranstalt. Dabei geht es anhand der Durchsicht von Prüfungsprotokollen und Examenskonzerten unter anderem um die Frage, welche Rolle die Kompositionen der institutseigenen Leitfigur Mendelssohn im Repertoire des Hauses tatsächlich spielten.
Die private Musikpflege in den Leipziger Bürgerhäusern gehört zu den zweifellos interessantesten und vermutlich experimentellsten, dabei jedoch besonders schwer erschließbaren Segmenten des Musiklebens früherer Epochen. Mirjam Gerber (Hannover) hat sich anhand der Tagebuchaufzeichnungen von Henriette Voigt mit diesem Phänomen beschäftigt, wobei zugleich diskutiert wird, inwieweit Konzepte und Erscheinungen einer Salonkultur auch für das Leipzig der Zeit Mendelssohns und Schumanns namhaft gemacht werden können und welche Kreise als Träger derartiger Darbietungskontexte in Frage kamen.
Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit der für das neuzeitliche Musikleben so folgenreichen Begegnung der großen Laienchöre des 19. Jahrhunderts mit der Musik Händels und Bachs und diskutieren anhand erstmals erschlossener historischer Aufführungsmaterialien den Zusammenhang von zur Verfügung stehender Ensemblebesetzung und bearbeiteter Darbietungsfassung. An die Stelle einer lange dominierenden Abwertung vermeintlich romantischer „Verfälschungen“ tritt dabei das Verständnis für durchaus wohlmeinende Annäherungen der Aufführungsleiter des 19. Jahrhunderts an die verehrten barocken Vorbilder. Denn letztlich hatten diese Dirigenten in ihrer Tätigkeit auf unabweisbare aufführungspraktische Zwänge – etwa im Bereich der Generalbassausführung – und auf veränderte ästhetische Leitlinien zu reagieren. Martina Wohlthat (Basel) untersucht Peter Joseph von Lindpaintners Bearbeitungen von Händels auch im 19. Jahrhundert vielgespieltem Oratorium „Judas Maccabaeus“ in den Jahren 1832 –1847. Isabell Tentler (Leipzig) stellt mit dem 1854 gegründeten Riedel-Verein eine für die oratorische Bach-Pflege in Leipzig zentrale Institution vor, die sich vor allem durch eine sorgfältige Programmkonzeption und geschichtsdidaktische Begleitung der Konzerttätigkeit auszeichnete.
Der Bereich der geistlichen Musik bietet sich für eine Suche nach Kontinuität und Neuanfang in der Kompositionspraxis nach 1750 vor allem deshalb an, weil bei weitreichender Umgestaltung der liturgischen und textlichen Grundlagen hier gattungsmäßige und satztechnische Traditionen besonders wirksam waren und insbesondere das Oeuvre Bachs beständig als inspirierendes, aber auch übermächtiges Vorbild im Raum stand. Uwe Wolff (Stuttgart) geht in seinem Beitrag anhand kontrastierender formaler Konzepte den veränderten Erscheinungsformen der protestantischen Kirchenkantate in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach. Peter Wollny (Leipzig) untersucht Gattungs- und Stilprobleme in Mendelssohns frühen Choralkantaten, einer Werkgruppe, die Traditionen der vokal-instrumentalen Choralbearbeitung des späten 18. Jahrhunderts auf verschiedenen Ebenen aufgreift. Martin Geck (Dortmund) schließlich wendet sich mit dem Oratorium der bei weitem populärsten, wiewohl nicht liturgischen Gattung geistlicher Musik im 18. und 19. Jahrhundert zu. Zwischen Händel und Schumann geht er dabei insbesondere den Wandlungen des Konzepts eines „Volksoratoriums“ mit national-patriotischen Konnotationen nach.
Die Entstehung des vorliegenden Bandes wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Zu danken ist zunächst den Autoren, die unsere Einladung annahmen und bereit waren, an diesem Buchprojekt mitzuwirken. Sodann gebührt besonderer Dank dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch ihre Förderung die Vorbereitung und Realisierung von Symposion und Aufsatzsammlung ermöglichten. Die mit dem Bach-Archiv und dem Gemeinschaftprojekt verbundenen Leipziger Institutionen Mendelssohn-Haus, Schumann-Haus und Musikinstrumenten-Museum sowie das Institut für Musikwissenschaft der Universität leisteten wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Symposions.
Die Übersetzung des Beitrags von Clive Brown und die redaktionelle Bearbeitung lagen in den Händen von Stephanie Wollny. Manuel Bärwald überprüfte gewissenhaft sämtliche Zitate und bibliographischen Angaben. Frank Litterscheid übernahm den Notensatz. Ihnen allen schulden wir herzlichen Dank. Ganz besonders sei schließlich auch dem Verlag Breitkopf & Härtel für die Unterstützung des Vorhabens gedankt.
Leipzig, im November 2011