Hans Zender (1936–2019) Issei no kyo
Lied vom einen Ton [S,Orch] 2008/09 Dauer: 21' Text: Soyun Ikkyu
Solo: S – Picc.Fl.Ob.2Klar.Fag – Hn.Trp.Pos – 3Schl – Klav - 3Vl.2Va.Vc.Kb (oder chorisch)
UA: Köln, 1. Oktober 2010
UA der linearen Fassung: Witten, 5. Mai 2011
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Nietzsche spricht in seinem Spätwerk öfters von dem „Individuum als Vielheit“, von der Mehrheit von „Ich's“, die wir in uns tragen. Die moderne Hirnforschung scheint das zu bestätigen, und redet von verschiedenen „Ansätzen“ in der neuronalen Entwicklung unseres Ich. Noch radikaler ist schon seit jeher der Zen-Buddhismus, der das Ich als konstante Größe überhaupt leugnet, und den Menschen empfiehlt, sich ganz auf den jeweiligen Augenblick zu konzentrieren, und das jeweilige „Ich“ in größtmöglicher Intensität zu erleben.
Die traditionelle Kunst Europas ist noch ganz auf die Vorstellung des Ich als einer vielfältig modulierten und sich entwickelnden Einheit fixiert. Die stilistische Einheit des Kunstwerks war ein Abbild der Einheit des Ich. Sie suggerierte darüber hinaus die Identität des Werk-Ichs mit dem Ich des Autors. Die Moderne hat diese Grundeinstellung auf verschiedene Weise unterlaufen und demontiert. Die Darstellung der Brüchigkeit bzw. der Widersprüchlichkeit des Ich wich in manchen führenden Strömungen der neuen Musik einer quasi anonymen, kalten Ich-Losigkeit, welche ihre „Einheit“ aus modellhafter Zahlenkombinatorik bezieht.
Hier scheint mir das schöpferische Ziel der Moderne verspielt; liegt dies doch gerade in der Entdeckung der Vielgestaltigkeit des Subjektiven, die unter der „Orthodoxie“ der Ich-Einheit verborgen liegt. Das alte Subjekt des Subjektivismus wird nicht durch Lähmung seiner widersprüchlichen Kräfte überwunden, sondern durch deren Entfaltung zur Vielheit.
Ich werde nie einen Theaterabend vergessen, an dem Jutta Lampe – als einzige Akteurin auf der Szene – die verschiedenen Verkörperungen der /des Orlando von Virginia Wolfe spielte, und vor den staunenden Augen der Zuschauer ein Patchwork der dargestellten Figuren entstehen ließ, das nicht reduzierbar auf eine einzige Person war. Ein solches Mosaik von Interpretationen zu schaffen war mein Ziel bei „Issei no kyo“, wobei ich mir, wie schon in mehreren anderen Stücken, einen Vierzeiler des großen Zenmeisters Ikkyu auslieh. Ikkyu – der ungefähr zur gleichen Zeit wie Meister Eckhart lebte – ist einer der größten, auch heute noch gut bekannten Dichter Japans. Stets kreisen seine Gedichte um jenen blitzartigen Moment der Konzentration, in dem auf einmal etwas „klar“ wird, sich etwas „zeigt“. Im hier zugrunde liegenden Gedicht ist es ein Windglöckchen, das plötzlich zum Focus des komplexen Wunders unserer Wahrnehmung wird:
Das Reich des Sehens und Hörens ist endlos,
aber unhörbar kristallisiert sich ein reiner Klang.
Der alte Puko wusste eine Zauberformel:
Wind und Glocke hängen zusammen, dort auf dem glänzenden Geländer.
Mein Stück ist in vier Strophen gegliedert. Jede der Strophen enthält den kompletten Text, aber auf sehr gegensätzliche Weise und in verschiedenen Sprachen komponiert. Einmal hat die Sängerin ein junges Mädchen darzustellen, das in deutscher Sprache spielerisch vor sich hinplaudert; dann eine „Japanerin“, welche eine geheimnisvolle chinesische Poesie sparsam und leise andeutet; sodann eine französische Konzertsängerin, welche das Gedicht bewusst theatralisch rezitiert, und schließlich eine Person, welche mit englischen Sprachlauten in magisch-ritueller Weise die numinose Tiefenschicht des Textes evoziert.
Das Stück ist in zwei Versionen aufführbar. In einer ersten kurzen Version folgen die vier komponierten Charaktere – die von genau gleicher Zeitdauer sind – wie vier Strophen aufeinander. In einer alternativen zweiten Fassung, die doppelt so lang dauert wie die erste, erscheinen von Anfang an alle beschriebenen vier Charaktere gleichzeitig d.h. in unterschiedlich langen, genau proportionierten Teilen „durcheinander geschnitten“.
Hierdurch ergibt sich ein komplexes Spiel von Vorausschau und Rückblick, immer auf der Basis der vier Strophen der einfachen Fassung. Die natürliche Zeitfolge Vergangenheit/Gegenwart/ Zukunft wird in einem chaotischen Wirbel aufgehoben.
Das Stück sieht auch eine Solofunktion der Piccolo-Flöte vor. Diese muss – wenigstens in kleineren Sälen – ihre Spielposition wechseln. Damit hat es folgende Bewandtnis: Ikkyu zitiert in seinem Gedicht den Meister Puko, den Gründer eines musikalischen Bettel-Ordens. Dessen Angehörige zogen Shakuhachi spielend durch die Lande, um den Menschen das „wortlose Zen“ zu predigen. Von Puko wird berichtet, dass er sich gelegentlich hinterrücks an Zuhörer anschlich, um ihnen plötzlich ins Ohr zu spielen. So fließt durch mein Stück „Issei no kyo“ ein Traditionsstrom bis zurück zu Puko und dessen Mischung von philosophischer Religiosität und karnevaleskem Theater. Der Titel des Stückes stammt übrigens nicht von Ikkyu, sondern von Yukiko Sugawara, und will den wortlosen „einen Ton“ benennen, den nicht nur die Musiker des Zen auszudrücken versuchen.
(Hans Zender 2010)
CD:
Claron McFadden (Sopran), Dietmar Wiesner (Flöte), Ensemble Modern, Ltg. Johannes Kalitzke
Wittener Tage für neue Kammermusik 2011 (2 CDs, 1 DVD)
Claron McFadden (Sopran), WDR Sinfonieorchester Köln, Ltg. Johannes Kalitzke
CD WERGO WER 7339 2