Nicolaus A. Huber (*1939) An die Musik
I. Poem II. Liebesradierung [Ens] 2009 Dauer: 9'
Fl.Ob.Klar – Schl – Klav – Vl.Va.Vc
UA: Freiburg, 12. Juni 2010
Alle Radierungen sind mit einem Schweizer Messer (große Klinge) auszuführen. Man hält die Messerklinge am besten zwischen Zeige- und Mittelfinger, den Messerschaft in der Daumen-Zeigefinger-Bucht. Der Zeigefinger ruht auf der Daumenspitze. Jede Aktion ist so sorgfältig und geschickt wie möglich auszuführen. Dabei werden die vorderen Teile der Klinge benützt, äußerst selten die Messerspitze. Niemals darf im Transparentpapier ein Loch entstehen. Die Radierungen bzw. Schabungen auf dem Transparentpapier (DIN A3) brauchen auch im akustischen Erscheinungsbild eine angemessene (geübte) Geschwindigkeit und Sicherheit der Aufgabenbewältigung. Die zu beseitigenden Punkte, Striche, Verschmierungen etc. verlangen oft eine Mischung verschiedener Rasierrichtungen bzw. Längen und Methoden des Schabens. Nie zu sehr drücken! Die Verletzungen der Notenlinien beim Wegkratzen sind zu vernachlässigen (im Original werden die Transparente auf ihrer Rückseite beschrieben oder verletzte Notenlinien nachgezogen).
Die einzelnen, nummerierten Aufgabenfelder bestehen aus weg zu radierenden Einzelzeichen, falsche Graphiken und Fehler im musikalischen Zusammenhang. Die richtigen Lösungen sind unterhalb der Beispiele angezeigt. Die liebevolle Aufgabe besteht auch im reagierenden Erkennen eines sinnvollen musikalischen Zusammenhangs und Zusammenspiels. Fehler sind meist Zwangsjacken der Musik, Korrekturen eine Befreiung zur richtigen (gemeinten) Struktur. Es ist eine arbeitsintensive, aber fröhliche, freie und befreiende Gesamtakustik An die Musik, eine Liebesradierung! Krümel-Wegblasen und Wegwischen erlaubt.
Jeder Spieler ist in der Auswahl, Menge und Reihenfolge der zu korrigierenden Beispiele frei. Auf Unterschiede, auch im Umfang der Aufgaben, achten.
Die Aufgaben sollen auf Tischen rund um das Publikum ausgeführt werden. Akustisch attraktive Unterlagen (z. B. Zeichenblöcke) für die Transparente aussuchen. Ein rötliches Millimeterpapier als zusätzliche Unterlage erhöht das Gefühl für Präzision.
Die Aufgaben selbst bestimmen den akustischen Charakter: Mischung der Lautstärken, der unterschiedlichen Daumen und Rhythmen, der Pausen, der Schabe- und Richtungsklangfarben, der Ein- und Ausschwingvorgänge (Klingenposition und -haltungen), Methoden der Aufgabengliederung (grob, fein im Detail, längere und kürzere Messerstrecken, Restebeseitigungen es darf beim Kopieren nichts mehr zu sehen sein , Haupt- und Nebenaufgaben, bloße Säuberungen oder Konturenbereinigungen, große Korrekturen usw.).
Der Präzision der Aufgabe entspricht eine offene Akustik. Der relativen Vereinzelung entspricht eine transparente und vernetzt ineinandergreifende Klanglandschaft. Es gibt ja Hörer!! An ihre Ohren dringt ein erfrischendes Klingen ungekannter Schriftbilder, ex negativo, da nur durch Verbesserungen und Radierungen, als Vorschimmer einer Musik, deren eine Wesensseite ihr Schriftbild ist. Ich habe dieses Stück geträumt! Und es war voll von einem geheimnisvollen Klangoptimismus!
Alle Spieler sind beteiligt, ausgenommen der Pianist. Er fungiert als Ohr und Zeitdiktierer. Nach ca. 6 Minuten unterbricht er abrupt das Klanggeschehen mit seinen drei Flageoletts, insgesamt ist dieses Stück ein riesiger Trochäus.
Für Übungszwecke ist die Transparentvorlage in doppelter Ausfertigung beigelegt.
(Nicolaus A. Huber)
CD:
Ensemble Recherche: Liebeslieder
CD Wergo, WER 6792 2
Bibliografie:
Kampe, Gordon: „Alles weg!“ Über das Verschwinden im Werk Nicolaus A. Hubers, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 64-79.