Isabel Mundry (*1963) Das Rohe und das Geformte III
[Ens] 2010 Dauer: 13'
Trp.Pos.2Schl.Git.Klav.Vc
Uraufführung: Berlin, Sophienkirche (MaerzMusik), 27. März 2010
Wo beginnt die Wahrnehmung zu einer ästhetischen Erfahrung zu werden? Was ist das Innen und Außen einer Idee und was die musikalische Materialität? Was bindet die musikalischen Elemente einer Komposition, was lässt sie auseinander fallen? Welche Zeit brauchen sie und welche Zeitlichkeit zersetzt sie wieder? Was ist deren Würde oder was deren zerstörerisches Potenzial? Was ist künstlerisches Wissen oder Unwissen und was ist kreativer Sinn oder Unsinn? Mit solchen Fragen kreise ich normalerweise eine kompositorische Idee ein und ertaste ihre Bedingungen. Zumeist sind sie den Werken vorgelagert. Hier hat es mich jedoch interessiert, diese Fragen im Innern der Musik immer wieder neu zu artikulieren und aus ihrer Sogkraft eine musikalische Zeitgestalt zu entwickeln. Die Hinwendung zu solch basalen Fragen mag durch die ungewöhnlich inhomogene Besetzung des Ascolta-Ensembles provoziert worden sein. Doch getrieben hat mich auch die Sehnsucht, wieder einmal an einen Ort kreativer Inkompetenz zu gelangen, um in diesem Steinbruch neue Relationen und Perspektiven entdecken zu können.
Der Komposition liegen sechs Aspekte, quasi Rohstoffe zugrunde: Sprache, Haptik, Tonalität, Wiederholung, Dichte/Fülle, Melodik. Sie lassen sich auch konkreter übersetzen in: gesprochene Worte, Knirschen, Loops, Quartsextakkorde, Überlagerungen (bis hin zum Rauschen) und Klanglinien. Jedem dieser Aspekte ist vorrangig ein Formteil gewidmet, in dem er fokussiert wird, doch in jedem anderen Teil ist er auch untergründig präsent. So bilden diese Aspekte sich gegenseitig Vordergrund wie Hintergrund, und sie artikulieren ihr Erscheinen und Verschwinden in mehrfachen Phasen innerhalb der Musik.
Roland Barthes hat die oben gestellten Fragen allgemeiner und poetischer formuliert, und er hat ihre existenzielle Schärfe benannt: „(Wo sind ,die Dinge‘? Im Raum des Liebenden oder im Gesellschaftlichen? Wo ist die ,kindische Kehrseite der Dinge‘? Was ist kindisch? Ist es jenes ,die Langeweile, die Schmerzen, die Trauer, die Schwermut, den Tod, den Schatten, die Düsternis‘ usw. besingen – das, was, wie man sagt, der Liebende tut? Ist es umgekehrt das die Welt, ihre Gewalttätigkeiten, ihre Konflikte, ihre Wetteinsätze, ihre ,Allgemeinheit‘ aussprechen, ausplaudern, ausschwatzen, entlausen – das, was die anderen tun?)“
Dieser Ausschnitt stammt aus den „Fragmenten einer Sprache der Liebe“. Als nichts anderes würde ich das Komponieren beschreiben als einen Versuch, der Unergründlichkeit von Musik nachgehen zu wollen und dieser Hinwendung je eine neue Perspektive zu verleihen. Denn, ebenso wie in der Liebe, geht es mir beim Komponieren um die stete Erfahrung, vertraute Zeichen nicht halten zu können, sondern allenfalls ihren Sinn in anderen Kontexten neu zu entdecken, entwickeln oder zu zerstäuben.
(Isabel Mundry, 2010)