Nicolaus A. Huber (*1939) Konzert für naturmodulierte Soli und Ensemble
[Ens,Elektr.] 2008 Dauer: 20'
Ob.Klar.Fg – Pos – Schl – Klav – Vc.Kb – CD-Zuspielungen, Audio-Beamer
Uraufführung: Freiburg, 6. März 2010
Alles fing mit dem Wellnessgedanken an. Aber die Musik dieser CDs war so grottenschlecht, dass es mir nicht möglich war, sie irgendwo zu benützen. Daraus wurde dann der Gedanke eines Konzerts im Sinne der späteren Praetorius-Definition des Streitens und Kontrastierens. Ein Solokonzert werde ich nie in meinem Leben schreiben, aber ein Konzert mit naturmodulierten Soli sagte mir zu. Die bekannten Fermaten Nonos waren als Öffnungen für Unerhörtes konzipiert, z. B. „colori“!! Sie sind jedoch in sich widerspruchsfrei gedacht. Bei mir spielen die Soli die Rolle von Fragmenten eigener Art, nämlich mit ihren innewohnenden Paradoxa. Auch der „Doppelgänger“ (Heine/Schubert) ist ein Paradox. Und wenn im „Konzert“ Heidi Klum den „Doppelgänger“ trifft, wird das Paradox selbst zum Paradox. Dialektischer Widerspruch als Paradox regt zum Grübeln an. Natur erfahren wir schon lange als Schönheit im Urlaub, als Katastrophenlieferant. Tsunamis, Unglücke, Explosionen verdinglichen zur bloßen medialen Aufregung, unsere Geschichte verflüchtigt sich zum medialen Warten auf Ereignisse. Solche Sinnenteleskopeinstellungen, sozusagen im unaufhörlichen Wartezustand, reduzieren unsere Sinne zu einer Art Situationismus. Seifenopern, Serien orientieren sich am Ereignis, spielen mit kalkulierten Paradoxa. Telenovelas immerhin haben angeblich einen „magic moment“, dem sie trotz ihrer Unendlichkeit als Serie doch eine gewisse Abgeschlossenheit verdanken. Gegen Ende vom „Konzert“ gibt es 7 Dramoletts. Da kann auch das Internet als Vorbereitungsquelle herangezogen werden.
Die klassische Physik repräsentiert die Alltagserfahrung unserer Sinne. Marx hat viel nachgedacht über die Vereinfachungen und Reichtümer unserer Sinne auf Grund ihrer Austauschmöglichkeit mit der Gesellschaft. Aber das war für unser praktisches Leben schon zu kompliziert! Die Quantenphysik als Objektbereich ideologiefreier(! / ?) Naturforschung kann den Soli etwas Zusätzliches aufmodulieren, nämlich z.B. die Nichtlokalität oder dass die Gegenwart (der musikalische Augenblick) eine Mischung aller denkbaren Vergangenheiten ist, die mit dem, was wir jetzt hören, kompatibel sind. Die Illusion eines uns Hörern möglichen Wahrscheinlichkeitsbildes der Vergangenheit unterstützt ein doppeltes Bracket-System des Wiederbringens von Vergangenem als wäre es noch gar nicht dagewesen. Die anvisierte Möglichkeit des Einsetzens eines mit punktförmiger Treffsicherheit arbeitenden Audio Beamers vereinzelt nicht nur den Hörer ausschnittartig und blitzartig, sondern ist mit seinem Vergangenheit-Skanner-Inhalt ein „Doppelgänger besonderer Art: Ihn trifft nicht Heidi Klum, er trifft Sie, lieber Hörer!
Nicolaus A. Huber (2008)
Bibliografie:
Hilberg, Frank: Aspekte der Instrumentation in den Orchesterwerken Nicolaus A. Hubers, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, pp. 104-123.
Lessing, Wolfgang / Rüdiger, Wolfgang: Neue Musik als Schlüsselkunst leib-körperlicher Erfahrungen, in: Body Sound. Aspekte des Körperlichen in der Musik der Gegenwart, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 57), Mainz u. a.: Schott 2017, S. 58-81.
Rüdiger, Wolfgang: Komponierte Paradoxa und Konfrontationen mit sich selbst. Nicolaus A. Hubers „Konzert für naturmodulierte Soli und Ensemble“ (2008) als „art totale instrumentale“, in: Nicolaus A. Huber, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge 168/169), München: edition text + kritik 2015, S. 124-152.