Hans Zender (1936–2019) ¿Adónde / Wohin?
Neufassung 2010 [Vl,S,Orch(Ens)] 2008/2010 Dauer: 30' Text: Juan de la Cruz
Soli: Vl S – 2Fl(2Picc).2Klar – Hn.Trp – 3Schl – Hfe – 2Klav – 2Vl.Va.Vc.Kb (oder chorisch)
Uraufführung: Berlin, 12. September 2009
Es gibt geschlossene, harmonisch-ausgewogene Formen; es gibt offene Formen, die den Hörer auf eine labyrinthische Reise schicken. In diesem Stück wird er eingeladen, eine ganz und gar zerklüftete, unüberschaubare Landschaft zu durchwandern: immer wieder plötzliche Endpunkte, dann neue Aufbrüche, kurze, dann längere Strecken, schroffe und sehr liebliche Bilder, und kein erkennbarer Hauptweg, der eine Orientierung gäbe. So wird er in seiner Wahrnehmung ganz auf das aktuelle Geschehen verwiesen, und gleicht vielleicht der Braut in Juan de la Cruz' geistlichem Liebesgedicht: durch Täler und Berge unablässig nach ihrem Geliebten suchend, der „wie der Hirsch“ entflohen ist, ist sie bereit, ohne Angst alle Sicherungen und Grenzen zu überschreiten.
Juans kristalline Verse sind in sieben- und elfsilbige Zeilen gegliedert. Das gab mir das Signal für die Komposition, als einzige durchgehende Ordnung die Harmonik von solchen Klängen bestimmt sein zu lassen, deren Grundintervall entweder den 7. oder den 11. Oberton enthält. Beide Intervalle sind nicht im temperierten Tonsystem enthalten. Der 11. Oberton ist fast genau um einen Viertelton tiefer im Vergleich zu einem chromatischen Halbton, während der Unterschied des 7. etwa einen Sechstelton beträgt. Um diese Intervalle von jeder Tonstufe aus realisieren zu können, ist es notwendig, ein Tonsystem zu benutzen, das 72 Stufen innerhalb einer Oktave gebraucht. Alle meine Stücke seit den frühen 90er Jahren sind in diesen hoch differenzierten Intervallen geschrieben und gedacht denn es war nicht nur nötig, neue Schriftzeichen und neue instrumentale Möglichkeiten zu entwickeln, sondern vor allem eine neue stimmige Harmonik zu finden, die dem Hörer und Spieler dabei hilft, die ungewohnten Tonabstände auch bewusst zu identifizieren. Mikrotonale Stücke ertrinken sonst entweder in einem nicht mehr kontrollierbaren Chromatizismus, oder sie fallen zurück in eine „spektrale Tonalität“.
Geht man regelmäßig mit diesen Intervallen höherer Ordnung um, so werden sie nicht nur selbstverständlich, sondern unentbehrlich. So geht es jedenfalls mir; ich empfinde sie als notwendig, um eine uns entsprechende Komplexität klanglich auszudrücken. Um diese auch zuverlässig zu realisieren, gibt es in „Adonde?“ ein zweites Klavier, das um einen Viertelton tiefer gestimmt ist, und eine Harfe, deren Saiten zum Teil um einen Sechstelton tiefer eingestimmt werden; beides hilft den Streichern und Bläsern, sich im Gestrüpp der kleinen Intervalle zu orientieren. Eine schwierige Aufgabe hat, neben der Solo-Violine, die Sopranistin: sie muss oft ohne klangliche Stütze Mikrointervalle treffen, da ihre Partie nicht im üblichen Sinn „integriert“ ist, sondern oft vom Orchester getrennt verläuft.
Das Stück ist „in memoriam Arnold Schönberg“ geschrieben und dem Klangforum Wien in herzlicher Freundschaft gewidmet. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Schönberg hat vor gerade 100 Jahren durch seine 1. Kammersinfonie die künstlerisch wichtigste Tradition der Neuen Musik begründet: das Kammerensemble, das zwischen den traditionellen Kategorien Orchester und Solist steht und wie eine Arche Noahs die Essenz der abendländischen Kunstmusik bewahrt, verwandelt und in die Zukunft führt. Die basisdemokratische und kollegiale Struktur der weltweit entstandenen Ensembles für Neue Musik ist nur ein Spiegel der in der Moderne neu entstandenen geistigen Gesetzmäßigkeiten. Diese haben sich von hierarchischen Ordnungen ab- und einem freien Nebeneinander der Formen zugewandt. Das äußert sich sowohl in der Vielfalt der Stile und Sprachformen wie auch in der Vielfalt der instrumentalen Mittel und Kombinationen. Seit vielen Jahrzehnten versuche ich meinen Teil dazu beizutragen, dass die Arbeit solcher Ensembles – und des Klangforums an ihrer Spitze – gesellschaftlich adäquat gewertet und auch unterstützt wird (was nirgendwo, außer in Frankreich, der Fall ist). Ich bewundere die unglaublich harte Arbeit dieser Musiker, die weltweit zu den besten und gleichzeitig am schlechtesten bezahlten gehören (was eine Schande für die zivilisierte Menschheit ist).
Als mich das Klangforum um ein Stück für ihr 25jähriges Jubiläum bat, gab es die Auflage, einen kompositorischen Bezug sei es zu Schönbergs Kammersinfonie sei es zu Bergs Kammerkonzert herzustellen. Man wird Schönbergs mit unzerstörbarem Optimismus voranstürmendes Thema an einer Stelle meines Stückes leicht entdecken, sollte aber nicht überhören, dass es in eine mikrotonale Harmonik projiziert ist. Gerade darin aber glaube ich Schönbergs Geist aufzunehmen. Ich will ihn hier zum Schluss auch verbal zitieren: „Die Auffindung unserer (ergänze: chromatischen) Skala war für die Entwicklung der Musik ein Glücksfall. ... diese Tonreihe ist (aber) nicht das Letzte, das Ziel der Musik, sondern eine vorläufige Station. Die Obertonreihe, die das Ohr zu ihr geführt hat, enthält noch viele Probleme, die eine Auseinandersetzung nötig machen werden. ...das Ohr wird sich mit den Problemen befassen müssen, weil es will“.
(Hans Zender)
Esposa:
¿Adónde te escondiste,
Amado, y me dejasre con gemìdo?
Como el ciervo huiste,
habiéndome herido;
salí tras ti clamando, y eras ido.
Pastores, los que fuerdes
allá por las majadas al otero:
si por ventura vierdes
aquel que yo más quiero,
decidle que adolezco, peno y muero.
Buscando mis amores,
iré por esos montes y riberas;
ni cogeré las flores,
ni temeré las fieras,
y pasaré los fuertes y fronteras.
(Juan de la Cruz, Cantico espiritual, Strophen 1–3, Madrid: Alianza Editorial 1991)
CDs:
Angelika Luz (Sopran), Ernst Kovacic (Violine), Klangforum Wien, Ltg. Sylvain Cambreling
CD KAIROS 0013202KAI (6CDs und 2 Backstage-DVDs)
Angelika Luz (S), Ernst Kovacic (Vl), Klangforum Wien, Ltg. Sylvain Cambreling
CD WERGO WER 7336 2
Bibliografie:
Nonnenmann, Rainer: Pluralismus als Schicksal. Der Komponist, Dirigent und Musiktheoretiker Hans Zender und die Darmstädter Ferienkurse, in: MusikTexte Heft 164 (Februar 2020), S. 55-61