Vom Erkennen des Erkannten
Musikalische Analyse und Editionsphilologie herausgegeben von Thomas Ahrend, Heinz von Loesch und Friederike Wißmann
Festschrift für Christian Martin Schmidt
568 Seiten | 17 x 24,5 cm | 1.257 g | ISBN: 978-3-7651-0361-2 | Hardcover
Gesamtausgaben seit 37 Jahren
Christian Martin Schmidt, Ordinarius für Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin, steht wie kein Zweiter für greifbare, wissenschaftlich verlässliche Ergebnisse im Bereich der musikalischen Gesamtausgaben und der damit verbundenen praktischen Editionen. Vor 37 Jahren nahm Schmidt, frisch promoviert, die Mitarbeit an der Schönberg-Gesamtausgabe auf. 1992 wurde ihm die Editionsleitung der Mendelssohn-Gesamtausgabe übertragen, seit 1997 ist Schmidt für die Notenbände der Eisler-Gesamtausgabe hauptverantwortlich. Der 65. Geburtstag am 10. November 2007 - Grund für eine umfassende Würdigung, die ihm Freunde, Schüler und Kollegen in vielfältiger Weise und bezogen auf sein Hauptarbeitsgebiet zuteil werden lassen.
Leseprobe:
MARK DELAERE
Was ist eine Partitur?
Über den Stellenwert der Analyse in der heutigen Musikwissenschaft*
Die schlichte Frage ‚Was ist eine Partitur?‘ kann im heutigen musikwissenschaftlichen Kontext sowohl als Trivialität wie auch als Provokation anmuten: Eine Trivialität, weil der mehr als hundertjährige musikwissenschaftliche Umgang mit schriftlich fixierter Musik schon einen mehr oder weniger festen Begriff dessen, was eine Partitur denn eigentlich sei, ergeben haben sollte, und eine Provokation, weil just die Schrift vor kurzem von der ‚New Musicology‘ als Grundlage und Forschungsgegenstand der Musikwissenschaft kritisiert wurde. Gerade dieses Spannungsfeld erlaubt es überhaupt erst, eine scheinbar unkomplizierte Frage wie diese zu stellen. Ganz allgemein ist eine Partitur ein Zeichensystem, eine symbolische Darstellung oder Aufzeichnung von Grundbestandteilen der Musik wie Zeit oder Klang. Das gilt sowohl für die erste Neumenschrift ‚in campo aperto‘ wie für ein Software-Protokoll für elektronische Klangtransformation.1 Zu einer gewissen Zeit entstand in einem bestimmten Kontext also offensichtlich der Wunsch, Musik auch in einer schriftlichen Fassung festzulegen. Vier Bemerkungen drängen sich sofort dazu auf.
1. Die symbolische Darstellung ist unvollständig.
Die Geschichte der Musikschrift liest sich im Großen und Ganzen wie ein Prozess zunehmender Differenzierung. Es sei beispielsweise auf die Lautstärke hingewiesen. Diese Klangeigenschaft wurde bis ca. 1600 nicht explizit notiert, obwohl dynamische Unterschiede selbstverständlich implizit in der Besetzung auskomponiert werden konnten, wie zum Beispiel bereits in den gregorianischen Responsorien. Wie bekannt entstanden im Frühbarock die baukastenartig aneinander gereihten dynamischen Stufen ‚piano‘, ‚mezzoforte‘ und ‚forte‘ (Registerdynamik), die ab der Klassik auch von ‚Crescendo‘- und ‚Decrescendo‘- Prozessen vermittelt wurden (Übergangsdynamik). Parallel mit der Erweiterung des Orchesters und dem Anfang des industriellen Musikinstrumentenbaus ist im 19. Jahrhundert eine exponentielle Steigerung der Anzahl von dynamischen Stufen zu beobachten, während die Lautstärke im vergangenen 20. Jahrhundert sowohl eine Präzisierung mittels Angaben von Dezibelwerten als auch eine Anwendung auf den isolierten Tonpunkt erfahren hat. Auch die anderen Klangparameter wurden in der komponierten Musik im Laufe der Musikgeschichte immer detaillierter notiert. Wesentliche Aspekte der Aufführungspraxis wie zum Beispiel die Klangproduktion oder -qualität, die Druckunterschiede in der Phrasierung oder was man gemeinhin ‚timing‘ nennt bleiben jedoch in einer Partitur unberücksichtigt. Es verwundert nicht, dass gerade diese Aspekte am ehesten für die Beurteilung der ‚Musikalität‘ einer Aufführung herangezogen werden.
Eine erschöpfende Darstellung ist nicht nur unmöglich, sie ist auch unerwünscht. Im Gegensatz zu einer Tonaufnahme ist eine Partitur ja ein dynamisches Phänomen, das innerhalb der vom Komponisten aufgezeichneten Spielräume unterschiedliche Interpretationen ermöglicht. Ich finde es eine geradezu verlockende Perspektive, die symbolische Darstellung lediglich als negative Umschreibung aufzufassen: Schreibt der Komponist ein H, so weist er tatsächlich nur darauf hin, dass kein B, h oder g gemeint ist. Was nicht (negativ) umschrieben wird, ist frei interpretierbar. Diese Spielräume definieren eine Komposition als ein identifizierbares Werk, und unterschiedliche Interpretationen werden nur als Aufführungen derselben Komposition aufgefasst, indem sie diese Spielräume respektieren. Aufgrund von Entwicklungen der Musikschrift und der Aufführungspraxis muss die symbolische Darstellung aber fast immer um kontextuelle, historisch-stilistische Informationen ergänzt werden. Das trifft nicht nur auf die alte Musik zu, in der wesentliche Informationen über zum Beispiel ‚musica ficta‘ oder Besetzung nicht – oder nicht ausschließlich – der Partitur zu entnehmen sind. Auch in der komponierten zeitgenössischen Musik, die im Ruf steht, exakt notiert zu sein, gibt es ein solches symbolisches Defizit, wie sich an den folgenden zwei Beispielen beobachten lässt.
Eine Realisationspartitur für eine elektronische Tonbandkomposition aus den frühen1950er Jahren scheint mit ihrer Auflistung numerischer Werte für die Frequenzen, Dezibels, Millisekunden oder tonalen Spektren restlos determiniert zu sein, kann aber die akustischen Eigenschaften eines jeweils anderen Projektionsraums nicht oder nur annäherungsweise fassen. Entscheidungen über die Aufstellung von Lautsprechern oder über die Lautstärke der Klangwiedergabe in einem spezifischen Raum sind deswegen immer schwer und ‚ad hoc‘, und das gilt umso mehr für die Frage, welche technischen Geräte denn heute für die(Re-)Produktion analoger Tonbandkompositionen benützt werden sollten. Die serielle Tonbandmusik entstand damals teilweise aus dem Bedürfnis, die Klangfarbe genauso ‚punktuell‘ nach seriellen Prinzipien zu steuern wie die anderen Klangparameter, teilweise aber auch um Unzulänglichkeiten und Willkür in Aufführungen durch Musiker aufzuheben. Heute aber gehört sie insgesamt zu einer historischen Aufführungspraxis, in der nicht alle Fragen über die Klangwiedergabe von der symbolischen Niederschrift in der Partitur beantwortet werden können.
Für das zweite Beispiel führe ich ein Zitat aus einem Interview an:
These [compositions] are intentionally as difficult as I can make them, because I think we’re now surrounded by very serious problems in the society, and we tend to think that the situation is hopeless and that it’s just impossible to do something that will make everything turn out properly. So I think that this music, which is almost impossible, gives an instance of the practicality of the impossible.2
Die Nicht-Aufführbarkeit ist hier gerade durch das Übermaß an Vorschriften zur kompositorischen Kategorie geworden, was einmal mehr belegt, wie diese und vergleichbare, angeblich exakt definierten Partituren ungeachtet ihrer angestrebten Vollständigkeit unvollständig bleiben.
2. Die symbolische Darstellung ist prinzipiell wiederholbar.
Eine Komposition, die – wie unvollständig auch immer – in einer Partitur symbolisch repräsentiert ist, kann im Gegensatz zu einer grundsätzlich einmaligen Improvisation mehrmals zum Klingen gebracht werden. Diese Wiederholbarkeit impliziert Repertoirebildung und schließlich auch die Errichtung eines Kanons, einer Sammlung von Musikwerken, denen eine besondere kulturelle Bedeutung beigemessen wird. Der Werkbegriff im emphatischen Sinne ist wie bekannt erst um 1800 als Folgeerscheinung der philosophischen Ästhetik und deren romantischen Ausprägung entstanden, ist aber in Wirklichkeit viel länger, spätestens seit dem Spätmittelalter, latent vorhanden.3 Johannes Ockeghems Missa prolationum zum Beispiel ist funktionale, liturgische Musik, verrät aber aufgrund ihrer ingeniösen Konstruktion und ihres musikalischen Reichtums deutlich eine ästhetische Ambition, die diese liturgische Funktion entschieden übersteigt. Die künstlerische Überlegenheit dieser und ähnlicher Kompositionen wird nicht nur von den Auftraggebern, sondern auch von den komponierenden Kollegen, von den Musiktheoretikern und von den Hörern anerkannt, so dass diese ‚Werke‘ für wiederholte Aufführungen und für die Aufnahme ins Repertoire in Betracht kommen. Ihre schriftliche Kodierung ermöglicht das auch ohne weiteres.
3. Die symbolische Darstellung fördert Innovation.
Im Gegensatz zu oral überlieferter Musik ermöglicht ein System zur Kodierung von Zeit und Klang weitgehende Experimente mit den Grundstrukturen der Musik. Das schriftliche Erinnerungsvermögen ist nun einmal wesentlich größer und die musikalischen Grundbestandteile lassen sich in einer schriftlichen Kultur viel schneller und einschneidender anpassen als in ausschließlich mündlich tradierter Musik. Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit oder der Isorhythmie ist ohne Musikschrift kaum vorstellbar. Und bei mit Hilfe von einem Computer komponierter Musik, in der ein Komponist mit einem Knopfdruck verschiedene Parameter und Strukturen experimentell variieren kann, um die ästhetisch gelungenste Fassung auszuwählen und schlussendlich zu speichern, sind die Möglichkeiten der radikalen Verwandlung der Musiksprache sogar noch größer.
* Eine frühere Fassung dieses Beitrags ist unter dem Titel „De toekomst van de muziekwetenschap: wat is een partituur?“ in der niederländischen Tijdschrift voor Muziektheorie 11 (2006), Heft 1, S. 31–35 erschienen. Sie wurde für diese Festschrift vom Verfasser revidiert, erweitert und übersetzt. Das mag durchaus auch als ein kleiner biographischer Hinweis auf die Periode verstanden werden, in der Christian Martin Schmidt die niederländische Musikwissenschaft bereichert hat.
1) In diesem Aufsatz fasse ich den Partiturbegriff also im weit möglichsten Sinne als schriftliche Darstellung von Klang mittels Zeichensystemen wie z. B. Noten, Wörter, graphischer Vorlagen oder Zahlen. Diese ontologische Untersuchung geht also über den engeren (und präziseren) Partiturbegriff der Editionsphilologie als vertikal (in der Zeit) koordinierte Zusammenstellung verschiedener Stimmen hinaus.
2) Der Leser mag hierbei wie von selbst an Brian Ferneyhough oder einen anderen Komponisten der sogenannten ‚New Complexity‘ denken. Das Zitat entstammt jedoch einem Interview mit John Cage über dessen Freeman Etudes, das in Sonus 3 (1983), Heft 2, veröffentlicht wurde. Das Zitat ist hier James Pritchett, The Music of John Cage, Cambridge 1993, S. 198, entnommen.
3) Die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem musikalischen Werkbegriff ist als lebendig einzustufen. Als wichtige Stationen wären zu erwähnen das Kapitel „Musik als Text und Werk“ in Carl Dahlhaus’ Musikästhetik, Köln 1967, S. 19–27; der Aufsatz „Opusmusik“ in Hans Heinrich Eggebrechts Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik, Wilhelmshaven 1977, S. 219–242; Wolfgang Seidels Werk und Werkbegriff in der Musikgeschichte, Darmstadt 1987; und Lydia Goehrs The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music, Oxford 1992. Eggebrecht und Goehr vertreten in dieser Diskussion die extremsten Positionen, indem Erstgenannter die grundlegenden Merkmale des Werkbegriffs bereits in der mehrstimmigen Kunstmusik seit dem Mittelalter ausgeprägt sieht, während Letztgenannte den Werkbegriff erst seit dem späten 18. Jahrhundert als regulatives Prinzip anerkennt und sämtliche frühere ‚Werke‘ nur aufgrund einer ahistorischen Zurückprojektion des expliziten romantischen Werkbegriffs als solche einstuft.