Hans Zender (1936–2019) Logos-Fragmente (Canto IX)
[GGCh,Orch] 2006/2007 Dauer: 85' Text: Bibel / Bible
UA der Logos-Fragmente I, V und VI: Donaueschingen, 21.Oktober 2007
UA der Logos-Fragmente IV: München, 27. Januar 2008
UA des Gesamtwerks: Berlin, 4. September 2011
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Ich habe schon lange akzeptiert, dass mein Inneres mich von Werk zu Werk zwingt, auf die komplexe Situation der Gegenwart mit immer neuen ästhetischen Fragestellungen zu reagieren. Bei dem schon länger geplanten Stück für Donaueschingen musste sogar ein (schon weit ausgeführter) erster Entwurf in den Orkus verbannt werden und einem neuen weichen, der sich noch viel deutlicher von meinem 8. Canto Shir Hashirim abhob, mit dem das neue Stück im Hinblick auf Zeitdauer und Besetzung vergleichbar ist.
In Shir Hashirim hatte ich eine Lösung für eines der ererbten Grundprobleme der nachwebernschen Musik vorgelegt. Diese denkt ja von der kleinsten Zelle her, und sehr oft erscheint die Großform als eine bloße Aneinanderreihung von Sektionen. In Shir Hashirim dagegen schafft ein formales Netz die strukturelle Einheit eines über zweistündigen Zeitraumes; mittels fraktaler Techniken wird eine Vielheit gegensätzlicher musikalischer Gestalten durch ein System von Wiederholungen geordnet, sodaß ein internes Speichergedächtnis entsteht. Das neue Stück sollte nun eine Alternative zu diesem großformalen Organismus bilden. Denn immer mehr war ich zu der Vorstellung eines Ganzen gelangt, das nicht mehr durch Ähnlichkeiten proportionaler Bezüge oder, ganz allgemein, durch kontinuierliche Abläufe sich bildet. Es sollte eine Folge musikalischer Einheiten entstehen, die kein gemeinsames Material verbindet, die auch nicht – weder psychologisch noch im Sinne einer musikalischen „Architektur“ – einander zugeordnet sind. Ihre Reihenfolge musste unbestimmt (d. h. vom Interpreten festzulegen) sein; ihr Charakter, ihre formalen Eigenschaften, auch ihre Zeitdauer sollten möglichst verschieden sein und keine Symmetriebildungen ermöglichen. Ja auch der einzelne Satz sollte, obwohl er seine Individualität klar zu entfalten hätte, nicht im üblichen Sinn perfekt und abgerundet erscheinen, sondern eher wie ein Ausschnitt aus einem imaginären Ganzen.
Eine Folge von verschiedenartigen Fragmenten also; wieso können diese aber den Anspruch stellen, zusammen ein Ganzes zu bilden – wenn auch in einem neuartigen Sinn? – Unsere Vorstellung der Einheit eines Kunstwerks ist normalerweise verbunden mit dem einen Autor, der es hervorbringt; von diesem Autor wiederum erwartet man, dass er eine gleichbleibende Sprache, einen „Stil“ schreibt. Nun könnte man sich aber Autoren vorstellen, die sich in mehreren Sprachen bzw. Stilen ausdrücken; ebenso Werke, die von einer Vielzahl von Autoren produziert werden. In meinem Bewusstsein bildete sich plötzlich als Modell für mein Stück die Vorstellung einer jener Bibliotheken gnostischer und biblischer Schriften, wie sie als sensationelle Funde nach dem zweiten Weltkrieg an verschiedenen Orten aufgetaucht waren: Papyrus-Fragmente, schwer zu entziffern und chaotisch in ihrer Heterogenität, aber bei näherem Zusehen von größter Kohärenz durch das Band der gemeinsamen geistigen Ausrichtung und der Herkunft aus der gleichen kulturellen Region und historischen Zeit. Hier gibt es sehr wohl eine Einheit, aber keine durch ein Subjekt geschaffene.
Damit war auch entschieden, dass ich die Texte für meine musikalischen Fragmente ähnlichen Quellen des 1. und 2. Jahrhunderts entnehmen würde. Dies kam auch meiner eigentlichen Absicht entgegen, mich in diesem Werk in besonderer Weise mit der Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins zu Konzentration und Sammlung auseinander zu setzen. Dies wiederum hing mit der Faszination zusammen, welche die amerikanische Malerei der Jahrhundertmitte in immer noch wachsendem Maß auf mich ausübt. Rothko, Motherwell und Newman sind in meinen Augen die radikalsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Barnett Newman, auch als Theoretiker sehr scharfsinnig, scheint mir die kühnste, nie übertroffene Antwort auf die Situation der Moderne gegeben zu haben: er antwortet auf die unmittelbare Konfrontation mit dem Chaos durch die ikonische Präsenz der gesammelten geistigen Einheit, die er bildnerisch auf den einfachsten – und dadurch provozierendsten – Punkt bringt. Über die Bedeutung des „Logos“ für Newman schreibt Jean-Francois Lyotard 1983 in seinem Essay „Der Augenblick. Barnett Newman“ (und markiert damit ebenfalls eine der radikalsten Positionen neuerer Philosophie): „Das Wort, wie ein Blitz in der Dunkelheit, oder eine Linie auf einer leeren Fläche, legt den Grund für jede Differenz. Es macht diese Differenz – so gering sie sein mag – bewusst erlebbar und schafft so eine neue Sphäre: die Empfindung.“ Newmans Kritik an der klassischen Moderne, die er zum – logoslosen – Ornament zurückfallen sieht, scheint mir heute, unter neuen historischen Vorzeichen, brandaktuell.
Meine Fragmente entstanden in freier Folge. Die verwendeten Texte sind Fragmente aus gnostischen Schriften, aus apokryphen Quellen und aus dem Johannes-Evangelium. Die Besetzung ist für 32 Gesangsstimmen und großes Orchester, wobei das Orchester symmetrisch in drei Gruppen im Raum angeordnet und die Sänger auf der gesamten Spielfläche zwischen den Instrumentalisten verteilt sind.
Diese räumliche Disposition fasst die Fragmente schon äußerlich zu einer Einheit zusammen. Zu ihrer inneren Konsistenz trägt aber vor allem die Identität der harmonischen und rhythmischen Konstruktion bei. In beiden Bereichen benutze ich Techniken, welche durch strengste Gesetze die Willkür des komponierenden Subjekts reduzieren: eine (72 Töne pro Oktave nutzende) Harmonik aus Summen und Differenzen von Grundintervallen, eine Rhythmik, welche durch Überlagerung verschieden großer Periodizitäten sich bildet (der gesamte Johannes-Prolog z. B. ist auf der Überlagerung von 16:11 aufgebaut). Rhythmik und Harmonik erhalten dadurch etwas „Rituelles“, das von sich aus – also nicht durch inhaltliche Bezüge – den Hörer zu gesammelter Konzentration bringen will.
Das Werk als Ganzes ist eng mit dem Vokalensemble Stuttgart verbunden, das noch vor kurzem durch ebenso unverständliche wie barbarische Kürzungsankündigungen in seiner Existenz bedroht war. Es ist Sylvain Cambreling und dem Orchester des SWR Baden-Baden und Freiburg gewidmet, als Zeichen einer langen und tiefen freundschaftlichen Verbundenheit.
(Hans Zender, 2007)
CDs:
SWR Vokalensemble Stuttgart, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Sylvain Cambreling (Logos-Fragmente I, V, VI)
CD Donaueschinger Musiktage 2007, Vol. 1, NEOS 10824
SWR Vokalensemble Stuttgart, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ltg. Emilio Pomàrico
CD WERGO WER 6765 2
Bibliografie:
Mosch, Ulrich: La théorie microtonale de Hans Zender et son application dans les „Logos-Fragmente“, in: Unité – Pluralité. La musique de Hans Zender. Colloque Strasbourg 2012, hrsg. von Pierre Michel, Marik Froidefond und Jörn Peter Hiekel, Paris: Hermann 2015, S. 203-232.
Peters, Rainer: Eine klingende Archäologie des Bewusstseins. Hans Zenders Logos Fragmente decken die geistigen Grundlagen unserer Zivilisation auf, in: Neue Zeitschrift für Musik 174 (2013), Heft 2, S. 44-49.
Schulz, Reinhard: Das musikalische Großwerk als Gedanken-Ereignis. Über Hans Zenders Logos-Fragmente, in: musicaviva festival 25. Januar-15. Februar 2008, Sonderbeilage zur neuen musikzeitung, Dezember 2007/Januar 2008, S. 4.
Zender, Hans: Musik ist für mich sehr stark musikalisiertes Wort. Hans Zender zu seinen Kompositionen, den Cantos und den Logos-Fragmenten im Gespräch mit Dietrich Heißenbüttel, in: Neue Zeitschrift für Musik 174 (2013), Heft 5, S. 8-11.