Isabel Mundry (*1963) Balancen für Orchester
[Orch] 2007 Dauer: 12'
3(Picc.).3.Eh.3(Es-Klar.B-Klar.Kb-Klar).3 – 3.3.3.1. – Schl(3) - 2Hfe - Str: 24.0.9.6.2.
Uraufführung: Dresden, Semperoper, 9. Sept. 2007 (Staatskapelle Dresden, Ltg. Fabio Luisi)
Die Komposition Balancen hat prägende Anregungen von der Lektüre eines Textes des Schriftstellers Peter Weber erfahren. Der Text Minarette beschreibt einen Augenblick der Wahrnehmung, in dem zufällig zusammentreffende Sinneseindrücke sich überlagern und wechselnde Korrespondenzen erzeugen. Am Ufer des Bosporus hört der Erzähler die Signale eines zum Verkauf angebotenen Digitalweckers, worauf sich seine Wahrnehmung auf andere Phänomene der Wiederholung richtet, auf Hornstöße der Schiffe, gereihte Gebetsperlen an einer Schnur, Wellenschläge des Wassers, Sturzflüge der Möwen oder Melodiefloskeln vorbeifahrender Autos, bis hin zu Assoziationsketten, die nur in seinem Kopf entstehen. Die Eindrücke balancieren sich zu einem Gesamtbild schwankender Überlagerungen, stets gefährdet und stets sich erneuernd, durch jede zufällig hinzukommende Begebenheit.
Schwankende Gleichgewichte sind auch das Thema dieser Musik. Immer wieder entstehen Momente der Wiederholungen, die jedoch nie statisch werden, sondern fragile Balancen erzeugen, die im Ganzen einem Prozess der Gefährdung, Verwandlung und Erneuerung unterliegen. So pendelt sich die Komposition gleich zu Beginn auf variative Klangfächerungen ein, die nach und nach Polyphonien erzeugen und auf diese Weise die Balance des Anfangs zum Kippen bringen. Aus dem Wendepunkt geht das Wiederholungssignal einer Klarinette hervor, das Akkordpulsationen nach sich zieht, neue Gleichgewichte erzeugt, neue Wandlungen, Auflösungen und Umschichtungen. Im Großen durchläuft die Komposition eine dreiteilige Form, unterteilt in kleinere Unterabschnitte. Zweimal bewegt sie sich dabei auf eine pulsierende Fläche zu, die je innerlich differenziert und verwandelt wird, so dass die Ähnlichkeit der beiden Teile doch zu unterschiedlichen Ausgängen führt. Das eine Mal mündet sie in einen lang gedehnten Ausklang, das zweite Mal in den Schluss. Auf diese Weise kreist die Musik in ihrer Zeitgestalt um das Phänomen der Wiederkehr, um doch im Ganzen einen unumkehrbaren Weg zu vollziehen. Sie führt von einer transparenten Klanglichkeit in eine polyphone Fächerung und mündet gegen Ende in eine melodische Innenperspektive, in der die Balancen quasi mikroskopisch beleuchtet, und schließlich zerstäubt werden. So ist die Musik einen Weg gegangen, von einer literarischen Beobachtung in generelle Erfahrungsmuster, von diesen in musikalische Imaginationen, Klanggestalten und das Innerste melodischer Zellen. Und nun geht sie ihren Weg in das Konzert und die bevorstehende Zusammenarbeit mit der Sächsischen Staatskapelle und Fabio Luisi, denen die Musik mit Vorfreude gewidmet sein soll.
(Isabel Mundry, 2007)