Friedhelm Döhl (1936–2018) Gesang der Frühe
(Dialog mit Schumann) [Orch] 2005/06 Dauer: 20'
Picc.2.2.2.B-Klar.2.Kfg – 4.3.4.1.– Schl(3) – Str: 14.12.10.8.(8)6.
UA Lübeck, 11. Juni 2006
UA Lübeck, 11. Juni 2006
Vor Jahr und Tag sagte mir Roman Brogli-Sacher, dass im Rahmen der Sinfoniekonzerte des Philharmonischen Orchesters 2006 ein Konzert zu meinem 70-sten Geburtstag geplant sei. Wir überlegten ein Solokonzert, davor ein kurzes Orchesterstück, nach der Pause eine klassische Komposition meiner Wahl. Für das Solokonzert schlug ich mein Cellokonzert vor, mit Heinrich Schiff als Solist (der es mir Hans Zender und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken 1981 uraufgeführt hatte), - in Erinnerung an eine Begegnung mit ihm in Lübeck 2004, wo er mir sagte, dieses Konzert würde er gern einmal spielen. Als klassische Komposition kam mir spontan Robert Schumann, dem ich mich wahlverwandt fühle, und seine 2. Sinfonie in den Sinn, schon wegen des unendlich schönen langsamen Satzes. Für das einleitende Stück dachte Roman zunächst an meine Komposition „Ikaros“, die ich 1977/78 für das Basler Sinfonie- Orchester komponiert hatte. Das ist nun fast 30 Jahre her, und ich sagte, auch spontan – und etwas leichtfertig: Ich schreibe Euch lieber ein „neues schönes Stück“. Als Geschenk an das Lübecker Orchester, das mir ans Herz – und ins Ohr –gewachsen war. – Die Philharmoniker hatten schon mehrfach Musik von mir gespielt: 1985 „ballet mécanique“ für Kammerorchester (Unter Ludwig Pfalz), 1987 „Passion“ für Orchester (unter Matthias Aeschbacher), 1988 schon einmal das Cellokonzert (unter Michel Swierczewski, mit Andreas Grünkom), 1966 „Tombeau“ für große Orchester (unter Erich Wächter). 1997/98 schrieb ich dann im Auftrag der Hansestadt Lübeck zum 100-jährigen Jubiläum der Philharmoniker die 7-sätzige „Symphonie für großes Orchester“ (Uraufführung 1998 unter Erich Wächter). Den Titel „Symphonie“ wählte ich, weil ich hier mein sinfonisches Schaffen noch einmal „zusammen“ fassen und eigentlich abschließen wollte, um mich anderen Aufgaben zuzuwenden. Nun wurde ich in diesem Vorsatz untreu, um noch ein „Aprèslude“ zu schreiben, später genannt „Gesang der Frühe“.
Zwar ist das „neue“ Stück ja nicht so einfach „schön“ geworden. Es ist auch etwas von meinem Leben und Erlebten darin. Am Tag, nachdem ich noch mittags fröhlich mit Heinrich Schiff zusammen gesessen hatte, erfuhr ich vom Tod meines Bruders Reinhard. Das wirkte danach in verschiedene Kompositionen hinein, besonders in meiner „Herbstsonate“ für Bratsche solo (2004/05), - dann in die Komposition „Ite missa est“ für Orgel (2005), den Abschluss meiner „Orgelmesse“. Zugleich eine Vorstudie für das geplante Orchesterwerk.
Sinfonische Musik ist auch „Bekenntnismusik“. Man stellt sich quasi „vor den Vorhang“ mit dem Versuch einer neuen Antwort auf die Frage: Wer bin ich? – Für mich stellt sich mein Leben und Arbeiten zunehmend als ein „zyklisches“ dar, in „gewachsenen Ringen“. So begleitet das neue Anfangen auch die Erinnerung an Früheres, Früheres aus meinem Komponieren und imaginärem Dialog mit wahlverwandten Komponisten, Dichtern, Malern. – Der Titel Gesang der Frühe mag an Schumanns späten Klavierzyklus „Gesänge der Frühe“ erinnern, die Komposition ist aber keine Paraphrase darüber, keine „Bearbeitung“. –Auf dem Komponiertisch kommt alles zunächst einmal alles, in einem wilden Durcheinander, zusammen, was in Hirn und Herz herumgeistert, will mit hinein ins Gewebe der Partitur, muss sich dann dem Filter von Bleistift und Radiergummi stellen. So mag man zwar auch Allusionen an Schumann wahrnehmen, auch eine gewisse Affinität zur Romantik überhaupt, der ich mich verbunden fühle,- Romantik im weiteren Sinn, von Hölderlin, Novalis und Jean Paul über Schumann und Mahler zu Rothko, Francis Bacon und Ernst Bloch. Aber, was da so herumgeistert, wird beim Komponieren teils wieder ausgeschwitzt, teils assimiliert, so dass dann etwas eigenes und neues entsteht. Wie auch immer eine Komposition bei mir „zusammenkommt“, macht sie sich dann, so auch hier, selbständig, stellt ihre eigenen Bedingungen. Was vielleicht erst ein „liedhaft“ Einfaches sein wollte, dann ein Art „Fantasie“ („Brief an Schumann“), wurde schließlich das, was ich nur mit „Gesang der Frühe“ betiteln konnte, - nicht, weil die Schreibarbeit sich hauptsächlich in den frühen Morgenstunden abspielte, nicht weil die Frühe auch mit Späte zu tun hat (und man im Späten wieder die Frühe erkennt), sondern vor allem auch, weil es ein neuer Aufbruch war („Frühe“?), zugleich ein großer „Gesang für Orchester“, in einem durchgehenden Satz von ca. 20´, - in mehreren Stationen entwickelt, mit mehreren „Aufschwüngen“, Steigerungen darin. Die Komposition ist zwar im ganzen eher „adagio“, im langsamen Pulsschlag, doch zugleich vieldeutig im Übergang von Nachdenklichkeit und Tranquillo zu Sehnsucht, Schwelgen.
Trauermarsch und Agitato – als Bestandteile des Vorüber. Der Schluss knüpft an den Anfang an: „wie aus Ferne“, erinnert aber nur ganz kurz, zeigt, dass wir woanders angelangt sind. Das selbe ist ein anderes geworden.
Die Komposition ist Gottfried Möckel zum 80-sten Geburtstag in Freundschaft zugeeignet.
(Friedhelm Döhl)
CD
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Ltg. Roman Brogli-Sacher
Dreyer-Gaido 21037
I. Gesang der Frühe | (7') |
II. Sphinx | (1') |
III. Revelge | (5') |