Hanspeter Kyburz (*1960) ΟΥΤΙΣ
Choreographisches Projekt [Tänzer,S,Ens,live-Elektronik] 2004/10 Dauer: 60'
Soli:Tänzer, S - Fl(B-Fl).Klar(B-Klar).Schl.Klav.Vl.Vc – Live-Elektronik – CD-Zuspielung – Beleuchtung
UA der Neufassung: Luzern, 21. August 2011
Vom Choreographischen Projekt zur Experimentaloper
Double Points: OYTIΣ – ein work in progress
Double Points: OYTIΣ ist in mehreren Phasen entstanden. Anfang 2004 trafen sich Emio Greco, Wolfgang Heiniger und Hanspeter Kyburz zu ausgedehnten Improvisationen, um mit Sensoren am Körper des Tänzers zu experimentieren. Die Möglichkeit, selbst kleinste Details der tänzerischen Bewegung auf musikalische Strukturen zu beziehen, faszinierte alle Beteiligten und leitete die praktische Erkundung des Materials ebenso wie die ersten Versuche der Beschreibung und konzeptionellen Reflexion. Im Anschluss an diese Improvisationen entstand für die Uraufführung im April 2004 in Dortmund die Partitur einer ersten 25-minütigen Fassung für Tanz, kleines Ensemble und Live-Elektronik.
In einer zweiten Phase kamen Pieter C. Scholtens Lichtregie und Joost Rekvelds kinetisches Video hinzu. Komplementär zu Heinigers Live-Elektronik, welche die Kontinuität körperlicher Bewegung und klanglicher Modulation aufeinander bezieht, programmierte Kyburz die live-elektronische Steuerung virtueller Instrumente mit dem Ziel, motivische Strukturen darzustellen, die während der Aufführung von Tänzer und Komponist interaktiv erzeugt werden. Nach aufwändigen Experimenten am Pariser IRCAM hatte dort Ende 2005 eine 40-minütige Fassung Premiere.
Um dann in einer abermals erweiterten einstündigen Fassung die vielen faszinierenden Materialien, die während der Experimente in Paris entstanden waren, formal integrieren zu können, erschienen zwei Schritte sinnvoll: erstens die Entwicklung einer Dramaturgie, die zusätzlich zur Strukturierung der Details die Beziehungen zwischen den Materialien global reguliert, und zweitens die Einführung eines Soprans und damit einer dialogischen Struktur. Die Gegenüberstellung einer Sängerin, die sich nicht bewegen kann, und eines Tänzers, der nicht zu singen vermag, evozierte dann die in der Odyssee beschriebene abgründige Trennung von Penelope und Odysseus.
Sabine Marienberg schrieb nun die Texte für Penelopes Auftritte. Um zu vermeiden, dass der gesungene Text als am spätesten integrierte Schicht im Vergleich mit dem Reichtum des zuvor entstandenen Materials äußerlich aufgesetzt wirkt, entwickelten Kyburz und Marienberg eine bis ins Detail der rhythmischen und semantischen Gestaltung reichende Technik, die es erlaubte, sprachliche und musikalische Strukturen sinnfällig aufeinander zu beziehen.
Nichts in diesem Stück ist dem Zufall überlassen; das continuous motion tracking ermöglicht vielmehr genaue Kontrolle, Emio Greco kontrolliert die Klänge, und wir kontrollieren die Form, d. h. die Art und Weise, wie Greco Kontrolle ausüben kann. Natürlich wissen wir nicht, was er machen wird, denn es geht um einen Dialog; aber es gibt kein Raum für Zufälliges.
Die Form der Pariser Fassung wurde grundlegend überarbeitet: Vieles verschwand, anderes wurde durch die dramaturgische Konstruktion und die Differenzierung des Charakters der Penelope überhaupt erst verständlich. Das Stück – in früheren Fassungen unter dem Titel Double Points: + aufgeführt – hieß nun Double Points: OYTIΣ und war zu einer Experimentaloper geworden, die in fünf Szenen Facetten der Geschichte von den Irrfahrten des Odysseus und der einsam wartenden Penelope beleuchtet. Die Premiere fand im März 2010 in Amsterdam statt.
Der starke Gegensatz zwischen den zwei Figuren Penelope und Odysseus erlaubt es ihnen, auf einer dramaturgischen Ebene miteinander zu kommunizieren. Die ersten beiden Teile exponieren diese unabhängigen Charaktere. Zwar besteht in Hinsicht auf das szenische Material keine Beziehung zwischen ihnen, aber die Musik hat in beiden Teilen viel motivisches Material gemein und verbindet Odysseus auf diese Weise mit Penelope. Sie schließt ihren Abschnitt beispielsweise auf dem hohen e, und dieses e erklingt im Ensemble immer wieder und begleitet Emio Greco, der dadurch auf einer abstrakten Ebene an sie gebunden ist. [...]
Am Ende herrscht eine sehr zarte Atmosphäre vor, ohne dass es sich um pure Harmonie handelte. Odysseus und Penelope wissen nicht, wer sie sind, müssen immer noch ihre gemeinsame Identität finden und sprechen über die Vergangenheit und die Zukunft. Sie sind einander fremd, aber voller Vertrauen.
Eingerahmt von drei Auftritten Penelopes zeigen die Teile II und IV nun die Fährnisse des abwesenden Helden, der die Verlockungen seiner jeweiligen Umgebung staunend und selbstvergessen erkundet (II) und ihre dunklen, unterweltlichen und mitunter gewaltsamen Seiten schutzlos erleidet (IV). Penelopes Auftritte hingegen präsentieren lyrische Ausdeutungen ihres inneren Erlebens (I, III) sowie der schließlichen Wiederbegegnung mit Odysseus (V). Diese Abschnitte sind von der Odyssee inspiriert, ohne jedoch in ihrer Entstehung von konkreten Textpassagen ihren Ausgang genommen zu haben. Die folgenden kommentierten Zitate sie entstammen allesamt der Übersetzung von Kurt Steinmann sind daher nicht als wörtliche Grundlage, sondern eher im Sinne rückblickender assoziativer Verdichtungen zu lesen, die einzelne Momente von Penelopes Situation zu konturieren vermögen:
I
[...] erzähle mir auch von jenem Manne des Jammers,
ob er noch irgendwo lebt und schaut die Strahlen der Sonne,
oder ob er schon tot ist und in den Häusern des Hades.
Ihr antwortete drauf das schattige Traumbild und sagte:
Nein, von ihm kann ich Dir nicht erschöpfend berichten, ob er noch
lebt oder tot ist, denn windiges Schwatzen ist doch ein Übel.
So sprach es und entwich an dem Riegel der Türe vorbei ins
Wehen der Winde; doch da fuhr sie empor aus dem Schlafe,
des Ikarios Tochter, und wieder wurd' ihr ums Herz warm,
weil ein so deutlicher Traum ihr genaht im nächtlichen Dunkel.
Von Gerüchten und Gespenstern, fernen Echos des trojanischen Krieges, Zeichen, Stimmen und entsetzlicher Stille. Von der gleichförmig verrinnenden Zeit des Wartens, rauschhaften Illusionen, regloser Verzweiflung und der Klugheit einer Frau, die ihre Fassung nicht verliert.
III
Ja gewiß harrt jene noch aus, mit standhaftem Mute,
dort in deinen Hallen, und jammervoll schwinden ihr stetig
hin die Tage und Nächte [...]
Und sobald sie zurückgelehnt mit den Rudern die Salzflut
wirbelten, senkte sich diesem Schlaf auf die Lider,
unerwecklich, ganz süß, dem Tode am nächsten vergleichbar [...]
und da schlief er nun ruhig, vergessend all seine Leiden.
Im Traum wird Odysseus vom Bild der Geliebten geleitet. Sie singt ihm, hellsichtig, verzeihend, was war und was wird. Jedes Wort ein Versprechen, voll ungeduldiger Zuversicht.
V
[...] und viel erwog sie im Herzen,
ob sie von weitem ihren lieben Gatten befrage
oder, ihm nahend, Haupt und Hände ergreife und küsse.
So überschritt sie die steinerne Schwelle und trat in den Saal ein,
setzte sich dann in des Feuers Schein gegenüber Odysseus
an die andere Wand, der saß an dem stattlichen Pfeiler,
schaute hinab auf den Boden und wartete, ob sie ihm etwas
sage, die treffliche Gattin, nachdem sie leibhaftig gesehn ihn,
sie aber saß lange stumm, betäubt war ihr Herz und verwundert;
bald dachte sie, in sein Antlitz blickend, er sei es, bald wieder
konnte sie ihn nicht erkennen in seiner schäbigen Kleidung.
Wie sich begegnen, verletzlich und staunend, ungläubig berührt. Ist er's? Odysseus der Fremde, Odysseus der Strahlende, unfassbar wirklich. Wer wird man sich sein?
Für die letzte und vorerst endgültige Fassung, die im August 2011 beim Lucerne Festival uraufgeführt wurde, sind weitere Passagen hinzugekommen: Sanft und weit ausschwingende, langsame Melismen des Soprans, gedehnte Momente konzentrierten Innehaltens, in denen die Gegenüberstellung zwischen der explorativen Aktivität des Odysseus und dem introvertierten Ausdruck Penelopes wie im Traum überwunden erscheint.
Fokussierte die Amsterdamer Fassung noch die unüberbrückbare Distanz zwischen den Figuren, erlauben die ergänzten retardierenden Momente nun eine Intensivierung der Interaktion zwischen beiden: Anfangs ist es Odysseus, der als Phantasiegestalt in schattenhafter Distanz unfassbar bleibt, während sich Penelope in tastenden Melismen verliert bis ihre Träumerei schließlich unvermittelt in eine ironische Außenperspektive auf ihre Beziehung umschlägt (since we are said to be one). Im zweiten Teil ist es dann umgekehrt, die unerreichbar ferne, statisch verharrende Figur Penelopes (way away ), deren tiefer, ruhiger Gesang Odysseus auf sich zurückwirft und ihn so zu neuen Handlungen antreibt. Durch die verzaubernde Präsenz ihrer Stimme (and dreams of pulse ) verändert Penelope später aktiv Odysseus Situation, indem sie ihn aus seinen solistischen Verwicklungen mit der Piccoloflöte befreit und ihn in ein öffnendes Tutti des Ensembles hinausführt. In den phonetisch zersplitterten Passagen des vierten Abschnitts schließlich zeigt sie sich ihm als geisterhafte Stimme, gleichermaßen verheißungsvoll und gespenstisch, vergleichbar der Ungreifbarkeit, in der er selbst ihr im ersten Teil erschien.
In all diesen Fällen ist es die erinnernd empfundene Nähe zu Penelope, evoziert durch ihre Stimme, die Odysseus Aktivitäten Richtung und Perspektive verleiht und seine Bewegungen wiederum lassen uns ahnen, von wem sie singt.
(Hanspeter Kyburz, Sabine Marienberg)
Bibliografie:
Ziegler, Michelle: Die Instabilität der interaktiven Schlaufe. Hanspeter Kyburz Experimentaloper Double Points: OYTIΣ, in: Dissonance, Heft 122 (Juni 2013), S. 36-41.