Isabel Mundry (*1963) Zeichnungen
[StrQuar,Orch] 2006 Dauer: 15'
Soli: 2Vl.Va.Vc. – 2(A-Fl).2(Eh).1.B-Klar(Kb-Klar).2. – 2.2.2.0. – Schl(2) – Str: 11.0.7.4.2
UA: Köln 10. März 2006 (Arditti-Quartet, WDR Sinfonieorchester)
Wollen Sie die Geschichte der „Zeichnungen“ hören? Sie ist recht verschachtelt. Es gibt eine große Kiste, in der meine alten Kompositionen gelandet sind. Darin lagen jahrelang auch „11 Linien“ für Streichquartett, eine Komposition an der Schwelle zur eigenen Sprache, ein Quartett, das mir nicht länger als Vorarbeit zu „etwas anderem“ erschien. (Früher sprach man vom „opus 1“.) Es war zugleich eine meiner ersten Raumkompositionen, in der – im Rahmen einer strengen Form – Linien durch das Quartett gezogen wurden. (Der Titel ist hier wörtlich zu nehmen.) Quasi einstimmige Linien, doch auch Umrisslinien, die an den Rändern einer Polyphonie entstehen, gleich dem Umriss eines Gebirges in der Ferne. Jahre später wollte ich für den Verlag eine Abschrift anfertigen, um es zu veröffentlichen. Und schreibend stellte ich fest, dass ich beim Abschreiben etwas Neues schreibe. Wo zuvor zwei Noten waren, waren mit einem Mal fünf Takte – so landete die Abschrift vorläufig wieder in der Kiste, zu absurd erschien mir das Unterfangen.
Im Streichquartett „Linien, Zeichnungen“ (2004) bin ich diesem Phänomen auf den Grund gegangen, das auf Verhältnissen von Nähe und Ferne beruht. Es gleicht Landschaften, wie sie in der japanischen Gartenkunst zu entdecken sind: abstrakt geschnittene Hecken, die aussehen wie Berge in der Ferne und dadurch die Perspektive auf einen Baum verzerren, der ganz in der Nähe ist. Teilweise blieb es bei den Linien der Sechsundzwanzigjährigen, gelegentlich wurde der Innenraum zwischen den „Linien“ neu definiert, und in der ursprünglichen Pause zwischen zwei Bartók-Pizzicati entstand eine ganze Polyphonie. Manchmal auch nicht. Die Mehrdimensionalität, die dadurch ins Spiel kam, wollte ich schon zu diesem Zeitpunkt auf das Orchester erweitern, um die Dimension von Ferne und Nähe auch in den instrumentalen Corpus einzuarbeiten.
Mit meiner ersten Komposition für Streichquartett und räumliches Orchester „Ferne Nähe“ (2000) hat dieses Stück wenig zu tun. (Auch wenn der Titel dies nahe legt.) In „Zeichnungen“ habe ich versucht, ähnliche Fragestellungen auf kleinerem Raum, auf einer rein innermusikalischen Ebene auszuarbeiten, mit weniger Mitteln, dafür in anderer Hinsicht differenzierter. (Schließlich bin ich älter geworden seither.) Dieses Stück braucht nicht mehr den ganzen Konzertsaal, im Grunde benötigt es eine Bühne, auf der verschiedene Innenräume sichtbar werden.
Meine „kammermusikalische Obsession“ versuche ich auch in meinen Orchesterwerken weiterzuentwickeln, und das Streichquartett bildet hier eine Art Schnittstelle zwischen „imaginärem Soloinstrument“ und „imaginärer Masse“. Das Streichquartett, als kleiner Klangkörper, enthält, zugespitzt formuliert, alle Möglichkeiten, die ein Orchester bietet. Und so durchdringen sich immer wieder drei gleichwertige Ebenen: ein Soloquartett im Vordergrund, das orchestrale „Superstreichquartett“ und ein „Schattenquartett“, das ein spiegelbildliches Gegenüber auf der anderen Seite des Orchesters bildet. Drei Ebenen, auf denen die „Linien“ jeweils neu beschrieben werden. Bildlich vorgestellt: Auf der Straße kann man Menschen von Nahem begegnen, sie in ihrer ganzen Komplexität betrachten. In weiterer Entfernung sind ebenfalls Menschen zu sehen, die wahrscheinlich so komplex sind wie jener, der vor mir steht. In noch größerer Entfernung verschwimmen die Individuen zu einer Masse, die jedoch ebenso differenziert wahrgenommen werden kann, während die Konturen des Menschen im Vordergrund verblassen – eine perspektivische Entscheidung. Insofern nimmt auch dieses Stück – wie alle meine Stücke – bestimmte Wahrnehmungsaspekte unter die Lupe.
Die Erfahrung ähnelt der des französischen Schriftstellers Francis Ponge, der in eine Muschel hineinschaut und darin ein Riesengebäude erblickt. Oder anders ausgedrückt: Die Welt, die zwischen einem Ton und einem anderen liegt – manchmal ein Leerraum, und manchmal die Fülle.
Isabel Mundry, Februar 2006
(aus einem Gespräch mit Patrick Hahn, WDR)