Hans Zender (1936–2019) Chief Joseph
Musikalisches Theater in 3 Akten 2003 Dauer: 120' Text: Hans Zender
Soli:SSATTT3BarBB – 1(Picc).1(Eh).Klar(B-Klar).3Sax.0. – 0.3.2.1. – Pk.Schl(3-4) – Klav.Akk – EGit – Str : 1.1.1.1.1.
Uraufführung: Berlin, Deutsche Staatsoper, 23. Juni 2005
Der Konflikt zwischen Indianern und Weißen, tausendfach als Stoff billiger Unterhaltungsware missbraucht und zur Wildwest-Romantik verkommen, bildet im Gedächtnis der westlichen Völker einen verräterischen, Schuldgefühle ebenso wie vage Entschuldigungen umschließenden Knoten. Zu deutlich zeigte sich in dieser geschichtlichen Konfrontation eine Schwäche der westlichen Zivilisation: ihre Unfähigkeit, oder besser Unwilligkeit, sich mit fundamental andersartigen Lebensentwürfen produktiv auseinanderzusetzen.
In meinem Stück wird der Gegensatz „wild – zivilisiert“ nicht als das Spannungsverhältnis „primitiv – hoch entwickelt“ aufgefasst – allerdings auch nicht im Rousseauschen Sinn als das des „edlen Wilden“ zum „verdorbenen Kulturmenschen“. Gezeigt wird vielmehr das beiderseitige Gefangensein in einem einseitigen Weltbild. Die scheinbar aufgeklärten Weißen sind in ihrer Grundeinstellung des Machen- und Haben-Wollens, welche die (innere wie äußere) Natur vergewaltigt, genauso eingeschlossen wie die Eingeborenen in ihren magischen Riten. Deswegen reden die beiden Parteien in meinem Stück immer aneinander vorbei. Sie können zwar die Laute der jeweils anderen Sprache in ihre eigene übersetzen, aber nicht begreifen, dass die Sprachen selber durch die jeweiligen kulturellen Voraussetzungen verschiedene Grundintentionen haben. Die indianischen Sprachen, welche weltweit zu denen mit dem größten Wortschatz gehören, streben nach der breitesten Singularität, nach der dichtesten Nähe zum Einzelphänomen. Westliche Sprachen dagegen mühen sich seit jeher um den höchsten Grad von Verallgemeinerung und rationaler Abstraktion, um die Etablierung von Gesetzmäßigkeiten – bis hin zum sogenannten Naturgesetz.
In dieser Situation des „Sich Miss-Verstehen-Müssens“ kann man eine Problematik wieder-finden, die sich innerhalb unserer westlichen Kultur als Gegensatz zwischen dem künstlerisch-schöpferischen Denken und dem wissenschaftlich-technischen Kalkulieren herausgebildet hat. In der aktuellen kulturpolitischen Situation kommen die Vertreter der poetischen Traditionen immer mehr in die Lage, ihre totale Andersartigkeit gegenüber der als gesellschaftliche Übermacht alles beherrschenden technisch-wirtschaftlichen Denkweise erklären und rechtfertigen zu müssen. Das Gefühl, inmitten dieser Gesellschaft nur noch wie in einer Art Reservat zu leben, ist für sie kaum noch zu verdrängen.
„My young men should never work“, sagt mein alter Medizinmann im 2. Akt. „Men who work cannot dream.“ Meine Musik stellt sich ebenso dem gewaltigen Pathos, das uns aus allen indianischen Originalzitaten entgegenklingt, wie auch dem (manchmal unbewussten) Zynismus der westlichen Eroberer. Es gibt eine das gesamte Stück durchziehende kompositorische Chiffre für die Grundproblematik des „Eingeschlossenseins in die nicht-hinterfragten Axiome der eigenen Kultur“: eine systematisch durchgeführte (und z. T. sehr komplexe) Polymetrik. Regelmäßige metrische Perioden, welche zueinander in einem bestimmten proportionalen Verhältnis stehen, überlagern sich, und bilden so charakteristische rhythmische Muster. Diese bilden eine autonom musikalische Analogie sowohl zu den fixierten Gedankenbahnen der indianischen Mythen wie zu den rationalen, unerbittlich geradeaus fortschreitenden Denkwegen der westlichen Eindringlinge.
Über das Stück verstreut und völlig unabhängig von der (aus der von Chief Joseph vor dem amerikanischen Kongress 1876 gehaltenen Rede exzerpierten) dramatischen Handlung erscheinen jeweils im Zentrum der drei Akte drei sogenannte Rotationen:
Textcollagen höchst widersprüchlicher poetischer Stimmen aus verschiedenen europäischen Jahrhunderten zu den großen „Themen“ des Stückes. So kreisen die Texte der 1. Rotation (Pessoa, Brecht) um die Fragen von Technik und Umweltzerstörung, die der 2. (Machault, Pound, Goethe) um die Probleme der Geldwirtschaft wobei hier auch die einzige musikalische Collage des Stückes auftaucht. Es wird nämlich die berühmte Motette Machaults zitiert, welche vom Kampf gegen die „superbia“, als der Quelle allen Übels, handelt. Das Bild des Drachenkampfes steht so im Zentrum des ganzen Stückes, während die 3. Rotation die schlimmsten aller Übel, Krieg und Völkermord, darstellt: der Kampf Chief Josephs gegen die weißen Soldaten vermischt sich mit Kommentaren und Berichten über die Bombardierung Tokyos und den Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima; das Grauen des jüdischen Holocaust wird durch die Rezitation des 22. Psalms in hebräischer Sprache beschworen.
Zwischen den dramatischen Blöcken des Stückes sieht meine Partitur immer wieder plötzlich auftauchende Inseln von Stille vor, in denen sowohl die Musik schweigt wie das Bühnengeschehen stillsteht: utopische Momente der Konfliktfreiheit, schöpferisches Chaos in reiner Potentialität. Aus diesen Zonen kommt die Figur des Chief Joseph, in seinen verschiedenen Verkörperungen bzw. zeitlichen Stadien seiner Biographie. Als Bühnenfigur sucht er nach dem archimedischen Punkt zwischen den Fronten, der den Krieg vielleicht doch noch verhindern könnte – und gerät zwischen die Lager. Von den einen als Feigling und Verräter, von den andern als gescheiterter Häuptling betrachtet, wird er doch zum Garanten nicht nur für das Überleben seines Stammes, sondern auch für den bleibenden Anspruch der Indianer auf Lebensrecht in einer künftigen Gesellschaft – wie er es in seiner eindrucksvollen Rede in Washington selber entworfen hat. Direkt aus dieser Rede zitiert sind die Texte der ebenfalls über das ganze Stück verteilten Klagegesänge, welche ein anderer Chief Joseph (II), begleitet von einem Ajeng – einem bisher in Europa nicht verwendeten koreanischen Volksinstrument – vorträgt. Am Ende der Oper steht, als eine Art Nachspiel, eine Szene, in der ein vollends zur mythischen Figur gewordener Chief Joseph III einen ekstatischen Tanz anführt. Die Szene bezieht sich auf die sogenannte Ghostdance-Bewegung, welche die in Reservaten eingeschlossenen nordamerikanischen Indianerstämme am Ende des 19. Jahrhunderts erfasst hatte, und auf das entsetzliche Massaker am „wounded knee“, durch das die amerikanische Armee dieser symbolischen (und gänzlich friedfertigen) Freiheitsbewegung ein jähes Ende bereitete.
Hans Zender (2004)
Bibliografie:
Ermen, Reinhard: Versuchsanordnungen des Musiktheaters. Hans Zenders Opern, in: Programmheft der Inszenierung von Hans Zenders „Don Quijote de la Mancha“, Frankfurt, 6. Dezember 2016 (Ensemble Modern@Frankfurt LAB), S. 19-21
Schmidt, Dörte: Wegkarte für Orpheus?. Historische und kulturelle Fremdheit in Chief Joseph von Hans Zender, in: Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik, hrsg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 47), Mainz u. a.: Schott 2007, S. 151-160.
dies.: Die Bilder werden neu entdeckt, aber als Zeichen, die der Vergangenheit angehören. Zenders Musiktheater und die Instanz der Geschichte, in: Hans Zender. Vielstimmig in sich, hrsg. von Werner Grünzweig, Jörn Peter Hiekel und Anouk Jeschke (= Archive zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Band 12), Hofheim: Wolke 2008, S. 77-89.
Steimel, Olivia: Zum Einsatz des Akkordeons als Orchesterinstrument im modernen Musiktheater, gezeigt an den folgenden Werken: Adriana Hölszky: Die Wände (1993-94), Hans Zender: Chief Joseph (2003), José M. Sánchez-Verdú: GRAMMA Gärten der Schrift (2004-06), Diplomarbeit an der Hochschule für Musik Würzburg 2012.
Zender, Hans: Das Eigene und das Fremde. Gedanken zu meiner Oper Chief Joseph, in: Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz, hrsg. von Christian Utz (= musik.theorien der gegenwart 1), Saarbrücken: Pfau 2007, S. 95-102.