Jürg Baur (1918–2010) Sentieri musicali (Auf Mozarts Spuren)
Sinfonietta [Orch] 1990 Dauer: 20'
2(Picc).2(Eh).2.2. – 2.2.3.0. – Pk.Schl(2. -3) – Hfe – Str
UA: Hannover, 8. April 1991
Auf Mozarts Spuren, auf den Spuren des späten Mozart, der die barocke Polyphonie und Chromatik J. S. Bachs entdeckt hatte und in seine eigene Sprache integrierte (z. B. die Finalsätze der Streichquartette KV 387, KV 464 und der Jupiter-Sinfonie).
Auf Mozarts Spuren – im unmerklichen Wechsel von einer zur anderen, zu neuen Pfaden, zur eigenen Spur. Hommage à Mozart, zumeist mit den Stilmitteln seiner Zeit, relativ kleinem Orchester.
Kaum eine melodische, harmonische oder modulatorische Wendung in dieser Sinfonietta – vielleicht mit Ausnahme des ersten Satzes – kaum eine Akkordfolge, die nicht schon im Spätwerk Mozarts zu finden oder davon abgeleitet wäre, kombiniert mit kontrapunktischen Verdichtungen und chromatischen Schärfen, gelegentlich bis an die Grenze dissonanter Tonalität getrieben. Von Satz zu Satz scheint das Mozartsche Musikidiom deutlicher hervorzutreten.
In der knappen, improvisatorisch gestalteten „Intrada“ dominieren Bläser und Schlagzeug; gelegentlich taucht torsohaft das Papageno-Thema über dem turbulenten Geschehen auf.
Der zweite, „Fuga“ betitelte Satz, ist stärker an die Tonsprache der Vergangenheit gebunden, gliedert sich in verschiedene Abschnitte, vergleichbar einem mehrteiligen Ricercar. Kaleidoskopartig begegnen sich Themen, Akkordgruppen, Figuren, fragmentarische Abschnitte aus Mozarts Kammermusik, zusammengehalten durch ein archetypisches Vierton-Motiv (vergleichbar, nicht identisch mit der B-A-C-H-Tonfolge), das (selbst Teil einer 12-tönigen Melodie) wie ein cantus firmus das Stück begleitet, eröffnet und zu Ende bringt.
Die Giga entwickelt sich ausschließlich aus dem thematischen Material der kurzen Klavier-Gigue KV 574, in der Mozart zunächst 10, dann 12 Töne zu einem barockhaft tänzerischen Fughettenthema verknüpft. Dieser Satz läuft ab wie ein „perpetuum mobile“ – um das „Urthema“ kreisend, atemlos, exzentrisch –, steigert sich in immer neuen Abläufen, Durch- und Engführungen zu einer brillanten Coda.
In der dreiteiligen Aria bestimmen Melodien aus dem h-moll-Adagio für Klavier KV 540 und ein rhythmisches Motiv aus Adagio und Fuge KV 546 den Satzverlauf, umrahmt von einer freien Episode (Pauke, Fagott, Englischhorn). Im Mittelteil führt eine intensive „isorhythmische“ Steigerung zu einem polytonalen Klang-Höhepunkt. Das Satzende ist von geheimer Trauer erfüllt.
Im Finale schließt sich der Kreis: Figaro und Papageno begegnen sich, d. h. die Hauptthemen der beiden entsprechenden Ouvertüren (kombiniert mit analogen Motiven aus fast zu gleicher Zeit entstandenen Werken (Prager Sinfonie, Streichquintett KV 515) werden zuerst nacheinander in längeren Abschnitten exponiert, erklingen dann gleichzeitig im „doppelten Kontrapunkt“ über einem ostinaten Tonleiterbass, original, variiert, verwandelt, verfremdet, parodiert … Nur einmal kurz vor Schluss gerät der Satz aus dem Gleis, wechselt für Sekunden in die Spur des Beginns der Durchführung aus dem Finale der g-moll-Sinfonie KV 550 (eine der kühnsten Stellen Mozarts, die weit in die Zukunft weist), ehe Figaro das Signal gibt – zum Pianissimo- oder Forte-Schluss, je nach Entscheidung des Dirigenten.
Jürg Baur (1990)
Bibliografie:
Wallerang, Lars: Die Orchesterwerke Jürg Baurs als Dialog zwischen Tradition und Moderne, Köln: Dohr 2003.