Nicolaus A. Huber (*1939) Die Leber des Prometheus
Collage aus vielen kurzen Texten [hSt,Ens] 2004 Dauer: 13'
S. Fl. Klar[B].Klav.Vl.Vc
UA: Wiesbaden, 14. Januar 2005
Diese Musik ist für ein thematisches Projekt zur Johannes-Apokalypse und 27 kolorierten Lithographien von Max Beckmann aus dem Jahr 1941 zu eben dieser Apokalypse komponiert. Allerdings hatte ich dabei einige Schwierigkeiten. Die Apokalypse mag ja als Durchhalteschrift für die damals verfolgten Christen seinen Zweck erfüllt haben, aber der blutrünstige Ton, das kategorische Freund-Feind-Denken (alles dem Zorn Gottes unterschoben), der Chauvinismus, die damals schon zurückgebliebene mythische Archetypensymbolik (nach C. G. Jung voller Bezüge zum Mithras-Kult) eines ziemlich ungebildeten Sehers fallen weiter hinter das zurück, was Christus lehrte. Mit Katastrophen drohen, sie religiös zu überhöhen: Wir brauchen kein jüngstes Gericht mehr, sagt Baudrillard!
Immerhin ist die Offenbarung voller Zahlensymbolik, mit Zahlen, die wir Musiker oft gebrauchen. Und es gibt eine wundervolle Stelle, Apo. 8,1: Als das Lamm das siebte Siegel aufbrach, wurde es im Himmel ganz still, etwa eine halbe Stunde lang. Dies drängte sich in meine Arbeit: Dem Stück liegt ein musikalisches Strukturmodell zugrunde, das zum nächsten durch eine Pause schreitet und diese Stille dadurch zusammenbindet, dass jeweils der letzte Ton auch der erste nach der Pause ist. Als ich zur siebten Struktur kam, wurde diese besonders lang, ein pausenloses Kontinuum. Als ich am Ende die thematische Länge überprüfte, ergaben sich 144 Viertel (144 ist eine apokalyptische Zahl, 12 x 12). Auf der Suche nach weiterer Strukturhilfe fand ich, dass die Längen der vorhergehenden 6 Strukturen auch genau 144 Viertel ergaben. Und noch merkwürdiger: die Musik dauerte bis hierhin genau 4 Min. 33 Sek. Cage berühmtes STILLE-Stück. Ich war ziemlich verblüfft.
Das erwähnte Strukturmodell mit den weiter gereichten Endtönen war für mich das Gegenteil von ENDzeit. Es handelt sich im Grunde um einen GESANG, in den sich die Musiker teilen, und der die stärkste Hilfe ist, die der unbewaffneten Menschheit zur Verfügung steht. Diese Melodien singende Selbstgewissheit verstärkt sich, wird sie zum Einklang übereinander geschichtet. Die polyphon geschichtete Prime als Ich- und Wir-Erfahrung.
Diese ist es auch, die Prometheus im viele Jahrhunderte älteren Mythos dem Zeus, ebenfalls unverhältnismäßig zornig, sich entgegen behaupten lässt. Die von Vögeln (vgl. die Apokalypse!) zerfressene Leber erneuert sich immer wieder ein Symbol fürs Schöpferische Aufklärung im Mythos vom Göttervater Zeus tödlich gehasst.
Im Unterschied zu den Medien und den Journalisten legen die Dichter (ich benütze 11 Textfragmente) die Katastrophen in unser Inneres, natürlich auch den Trost, den Halt. Bis hin zu Charles Bukowski, der ein Leben schildert, das unterhalb jeglicher Offizialität liegt, kaum berührbar erscheint und sich als Leben von ganz eigener Vitalität und Zähigkeit offenbart. Subexistenz als die vulkanischste!
(Nicolaus A. Huber, 2004)
Bibliografie:
Lessing, Wolfgang: Zeit und Wahrheit. Max Beckmanns „Apokalypse“ als Thema kompositorischer Auseinandersetzung, in: ...dass hinfort keine zeit mehr sein soll. Max Beckmanns „Apokalypse“-Zyklus im Fokus Neuer Musik, hrsg. von Rolf W. Stoll und Thomas Löffler, Mainz: Schott 2009, S. 21-32.