Nicolaus A. Huber (*1939) Pour les Enfants du paradis
Kurze Charakterstücke für Klavier Plus [Klav] 2003 Dauer: 11'
Uraufführung: Darmstadt, 3. April 2004 (Xiao Xiao Zhu (Klav))
20 Seiten | 23 x 30,5 cm | 107 g | ISMN: 979-0-004-18187-4 | Broschur
Als Edith Picht-Axenfeld mich vor vielen Jahren bat, Kinderstücke zu schreiben, mußte ich leider absagen. Ich sah keinen möglichen Weg zwischen den Ansprüchen meines damaligen Musikdenkens und den Anforderungen von Kinderstücken. Nun, Kompromisse brauchte es auch diesmal nicht, ist doch den Tönen inzwischen neue Vielseitigkeit und emanzipatorische Frische zugewachsen.
Dass in Darmstadt der junge Xiao Xiao Zhu die Stücke uraufführen konnte, war für mich sozusagen die Probe aufs Exempel. Im Schwierigkeitsgrad den Stücken Lachenmanns und Zenders vergleichbar, sind des Kompositionen für begabte Jugendliche und unerwachsen gebliebene Erwachsene allerdings mit einem völlig anderen Ansatz.
Der Titel sagt schon, es geht um besondere Kinder, die im Paradies der Neugierde, der Kultur der Gegenwart und des Könnens leben. Die Anspielung auf Marcel Carnés wunderbaren Film (deutscher Titel: Die Kinder des Olymp, 1943/45) wünscht nicht nur dessen Poesie herbei und die Gestik der Pantomimen, sondern vor allem die doppelbödige Dramaturgie: zu Beginn hebt sich langsam ein Vorhang, gibt eine imaginäre Bühne frei, auf der die Akteure gleichzeitig ihr eigenes Leben spielen. Und meine nachstehenden Untertitel erweitern den Denkraum. Es sind keine Kästchenhüpfen-Stücke. Vielmehr stehen sie in der intensiven und flexiblen Tradition des Charakterstücks vom Fitzwilliam Virginal Book (1625) bis zur Avantgarde des 20. und 21. Jahrhunderts. Darüber hinaus definieren sie Musik nicht nur als Tastenanschlag. KlavierPlus impliziert multitechnische Instrumentenentdeckung und in Nr. 2 sogar Musik als Klavierstück ohne Klavier.
Der musikalischen und pädagogischen Vielfalt entspricht auch die Verschränkung von zwei Zyklen, die, je arabisch und römisch, unterschiedliche Ansätze repräsentieren. Die Ton-Geschenke sind als praktische, vielleicht sogar auch als provozierende Haus-Musik gedacht: auch der Erzieher muß erzogen werden (vgl. K. Marx, Feuerbach-Thesen).
Hier der Grundriss:
1. Dripping
Ton-Geschenke:
I (zum Geburtstag), II (ins Innere), III (mit schwimmenden Tönen), IV a b c d e f (poetische Fragmente), V (Höhlenzeichnung), VI (Melodie)
2. mit Metronom, Hand- und Zungengelenk
3. Erik Satie im Mund Robert Schumanns
Vor der eigentlichen kompositorischen Arbeit ließ ich mich durch Literatur von Piaget, Andreas Flittner und Anna Ljublinskaja über Kinderspiele anregen. Eine Grundlage bildete dann die Thematik.
LERNspieleals Modell. Ich gebe hier die Stichworte wieder, wie ich sie auf meine Vorbereitungspapiere notierte:
Funktions-, Wiederholungsspiele
Höhlebauen / Tunnel: Töne verstecken, Töne tauchen unter, ertrinken
Spielen Singen Reagieren (Identität entwickeln)
Erkundungsspiele, Nachahmungsspiele, Ausprobieren eigener Fertigkeiten, Beobachten (Hören), Improvisieren, Ausdrucksübungen (Tasten, Berühren)
Diese Modellbegriffe gehen dann eine ist gleich-Beziehung ein:
= Gegenstände/Bauteile des Instruments, Hand, Finger, Zunge, Mund, Metronom (nicht nur als gefürchtetes Tempobesteck, sondern spielerisch in Nr. 2. verwendet), Plektron (Gitarrenkultur), Schere(n), Schnur (Schnitt-Zeichnen), Papiere (Klang-Malen), Schellentrommel.
Das pädagogische Anliegen von Pour les Enfants du paradis rechnet mit einem Lehrer, der aus den Möglichkeiten des Instruments, des jugendlichen Pianisten und des jeweiligen Stückes phantasievolles Entdecken, Lernen und breites kulturelles Assoziieren möglich macht. Insofern sind die Stücke nicht nur Gegenstand des gewöhnlichen Übens und möglichst guten Ausführens und Vorspielens, sondern in besonderem Maße Anlässe für Entdecken, Hören, Selbermachen, Lernen. Am pädagogischen Ende muss nicht das Stück stehen, das Wohlfühlen in der Thematik ist wichtiger. Diese Absicht habe ich in meinen vorbereitenden Skizzen in drei Felder (unsystematischer pädagogischer Möglichkeiten) verzweigt:
SPIELERISCHES = Instrument verschieden behandeln, suchen, entdecken, kennenlernen / Alltag musikalisieren / Übersichtlichkeit der Aufgaben / ca. 20 verschiedene Erzeugungstechniken (einschließlich streichelndes Berühren, Hauchgesang)
NOTATIONSFORMEN = Flageolett, Glissandoformen, Cluster, Pedalklänge, Xenakis, Gitter (in 1. Dripping) als vereinfachte Form von Space Notation
ÖFFNUNG für KULTURASSOZIATIONEN: cake walk, nachstehende Titel: Debussy, Gnossienne: Satie / Schumann / M. Monroe (Songs) / Fibonacci (Coda), in IV f: übermäßige Dreiklänge: Elektronische Studie I von Stockhausen. In 1. und 3.: Ives, 1. Klaviersonate, 1. Satz: ppp Notation / Dripping: Tropftechnik, Sieb als Zeitgitter, Max Ernst, Jackson Pollock, Action Painting, Tachismus Zufall, Informel, Geschwindigkeit, Gestik (!): wie muss man spielen, um einen Tropfenton zu erzeugen?, Feldman, Xenakis (Bilder, Partituren).
HAUS MUSIK
Die Stücke der Ton-Geschenke sind alle kurz und bis auf VI (Melodie) eher leicht auszuführen. Trotzdem finde ich: diese Stücke haben es in sich!
Im Anschluss an Gedankengänge von Baudrillard und beeindruckt von der lügenhaften Fernsehsimulation der betrügenden Tochter des Kuwaitischen Botschafters in New York vor und für den ersten (!) Irak-Krieg habe ich in die Musik als eine Art minipolitischer Praxis den sogenannten NAH-Bereich eingeführt. Baudrillard erklärt, dass alle Ereignisse durch einen totalen Verbreitungs- und Zirkulationsschub in einen Hyperraum der SIMULATION geschleudert und so ihrer nötigen Wachstumszeit telekommunikativ beraubt werden. (Vgl.. dazu Nicolaus A. Huber: Vom körperlichen Grund in Beds and Brackets, in: Huber: Durchleuchtungen Texte zur Musik, hrsg. von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2000, S. 280286.) Das problematisiert die Medien weit über das Lügenhafte und Falsche hinaus! Er spricht von einer fortschreitenden Verwüstung unseres Körpers durch unzählige (mediale) KÖRPERprothesen. Wir fragen: Was ist sicher? Wem kann man noch trauen? Wo sind die Plätze für Identität?
Welches Handeln ist möglich? Das Elementare in diesen Ton-Geschenken impliziert einen neuen Instantaneismus echter Augenblicke, im NAH-Bereich vollkommen überblickbar, alle Simulation ausschließen könnend, selbst beherrschbar.
Cage hat sehr treffend beobachtet, dass die ganze harmonische Struktur der westlichen Musik darauf beruht, dass sie ein Zuhause (!) hat, das Gefühl eines angestammten Platzes vermittelt. Und er rät uns völlig zu Recht wie ich meine, mehr Abstinenz von Ort und Sicherheit zu pflegen. Ohne diese Beobachtung ignorieren zu müssen, bekommt die Technik des NAH-Bereichs jedoch neue kritische Werte angesichts der täuschenden, ja betrügerischen TV-Glasbilder und ihrer Wucherungen.
Neben der Pflege des NAH-Bereichs haben diese elementaren Ton-Geschenke auch SUBVERSIVES, das Kinder durch einfaches Vorspielen in das kulturelle Wirken zu Hause einbringen können. Freundlich, mit Geschenken etwa zum Geburtstag, wird vielleicht der Erzieher selbst etwas erzogen und mit dem Anarchismus von Elementarem konfrontiert, während das Kind zum Beispiel in IV c nur einen 1/32 c2 Ton, ppp, staccato und auf 4/4 = 4 sec. Verteilt einfach nur spielt und dies als ganzes Stück (!!!).
Derartig Elementares, durch die Form als vollständiges Stück dem bloß elementaren Materialzustand eines kurzen, leisen Tons völlig enthoben, ist in und als Form dermaßen REAL, dass es ihm unmöglich ist, durch irgend einen Zusammenhang zu dem hinzuflüchten, was es ist. Je einzigartiger das REALE ist, desto unidentifizierbarer ist es. (Dazu Clément Rosset: Das Reale in seiner Einzigartigkeit, Berlin: Merve 2000.)
Kein Parameter hat irgendeinen Grund in irgendeiner Beziehung oder gar Proportion.
Stück und Ton c2 sind außer von der Taste, dem Instrument mit Hammer und Saiten, der Fingergeschwindigkeit, der Fingerweichheit usw. von nichts anderem abhängig. Man kann also jetzt zu John Cage hinzufügen: keine Sicherheit, aber ein Ort! Spielerisch vereinfacht sich dies zur Möglichkeit einer Stückevermehrung als Varianten. Denn jeder Ton des Klaviers kann zu einem IV c Stück herangezogen werden.
So klingt das oben Gesagte zwar ganz und gar nicht kindgemäß, ist es aber durch und durch! Kommunikation mit und über Kinder schafft eben Freiräume, die der professionellen Kommunikation eher verschlossen sind. Frequenzen, Dauern, Lautstärken, Artikulationen sind EINZIGARTIG SUBVERSIV verschiebbar. Es genügt, es zu tun! Selber wählen, selber machen, selber finden, selber erweitern erweisen sich als ganz einfach.
Ein dritter Aspekt war für mich:
MUSIK-ANSPRÜCHE:
Das Pedal liegen lassen was Kinder so gerne tun wird hier zu einer wichtigen musikkonzeptionellen Gestaltungsgrundlage neuer harmonischer Prozessverläufe. Das kaum HÖRBARE im übertrieben HÖRBAREN vermoduliert nicht nur die einzelnen Ton-Lebensläufe, sondern stellt neben der Frage nach der jeweiligen harmonischen Bedeutung (die hier nicht mehr so nötig ist), die neue Konzeptionsfrage: Was bringt der (kaum hörbare) Ton in den Klang? Das führt zu einer Pointilisierung von Tonschichten, zu Wiederaufnahme plus neue Töne (Dripping), oder zum Extremkontrast ffff pppp im 3. und letzten Stück Satie im Mund Robert Schumanns als Übetragungsmetapher geht davon aus: Was leicht vorstellbar ist, ist leicht ausführbar. Für Kinder, für uns!
Nicolaus A. Huber (2003)
Bibliografie:
Birkenkötter, Jörg: Neue harmonische Prozessverläufe in Nicolaus A. Hubers Pour les Enfants du paradis, in: MusikTexte Heft 108 (Februar 2006), S. 42-46.
Förstel, Francois, « Dripping » und nichtige Tontropfen. Gestaltungsaufgaben zu N. A. Hubers Pour les Enfants du paradis und Klaus K. Hüblers Vanitas, in: Hören und Sehen Musik audiovisuell (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Band 45), Mainz 2005, S. 351-359.
Großmann, Linde und Nicolaus A. Huber: Der Verstand im Körper. Ein Gespräch über Pour les Enfants du Paradis, in: Kunst lernen. Zur Vermittlung musikpädagogischer Meisterkompositionen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Matthias Schmidt, Regensburg: ConBrio 2008, S. 181-190.
Huber, Nicolaus A.: Pour les Enfants du paradis. Kurze Charakterstücke für KlavierPlus (2003), in: Hören und Sehen Musik audiovisuell (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung, Band 45), Mainz 2005, S. 57-61.
Hüppe, Eberhard: Zum Verhältnis von musikalischer und didaktischer Struktur in Nicolaus A. Hubers Klavierzyklus Pour les Enfants du Paradis, in: Kunst lernen. Zur Vermittlung musikpädagogischer Meisterkompositionen des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Matthias Schmidt, Regensburg: ConBrio 2008, S. 162-180.
Petersen, Birger: Neue Musik. Analysen, Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen 2013, S. 11-24.
Seidl, Hannes: Einbrüche der Popkultur in Nicolaus A. Hubers Musik seit 1990, in: MusikTexte Heft 108 (Februar 2006), S. 34-37.
Engl. The height of the breadth: Pop culture Infiltrations in the music of Nicolaus A. Huber, in: Music of Nicolaus A. Huber and Mathias Spahlinger, hrsg. von Philipp Blume, Contemporary Music Review 27 (2008), Heft 6, S. 655-664.
1. Dripping / Ton-Geschenke |
2. mit Metronom, Hand- und Zungengelenk |
3. Erik Satie im Mund Robert Schumanns |